Eichstätt – Wir brauchen einen eigenen Raum zum Wohlfühlen, einen Rückzugsort, der Sicherheit und Geborgenheit schenkt und uns ermöglicht, Gemeinschaft umso mehr zu genießen. Das ist die zentrale Botschaft des Buches „Die Ecke“ der koreanischen Autorin Zo-O. Religionslehrerin Maria Hauk-Rakos stellt es in der Reihe Buch des Monats vor.Sie haben beileibe nicht den besten Ruf: Ecken. Sei es in früheren Zeiten, in denen man als „erzieherische“ Maßnahme darin „stehen“ musste – was heute Gott sei Dank in der Pädagogik vollkommen zu Recht als entwürdigend abgelehnt wird – oder aber als Ort im Raum, in den man mal eben schnell den einen oder anderen Gegenstand stellt, der gerade im Weg ist. Diverse Ecken in unseren Häusern und Wohnungen gehören dem ersten Augenschein nach nicht unbedingt zu unseren „Wohlfühlorten“.Die koreanische Illustratorin Zo-O sieht das ganz anders. In ihrem Bilderbuch mit dem schlichten Titel „Die Ecke“ nimmt sie uns genau dorthin mit – zu einer leeren Ecke, die nach und nach von der Protagonistin, einer Krähe, zur persönlichen Wohlfühloase gestaltet wird. Die Krähe schmiedet Pläne, liest, tanzt, malt und schleppt Gegenstände in die zunächst kahle Ecke. Nach und nach füllt sich dieser unscheinbare Ort mit ihren kreativen Ideen und deren Umsetzung: Ein gemütliches Sofa taucht auf, ein Regal mit Büchern, ein Teppich – und natürlich darf auch eine Lampe nicht fehlen. Schließlich bemalt die Krähe sogar die Wände mit sonnengelben Mustern.Dieses besondere Bilderbuch gehört zur Gattung der sogenannten „Silent Books“ – also Bilderbücher, die nahezu ohne begleitende Worte und Sätze auskommen. Die Geschichte erzählt sich über die großformatigen, weich gezeichneten Illustrationen von Zo-O gewissermaßen von selbst und lädt dazu ein, über Rückzugsorte nachzudenken – Orte, die jede und jeder von uns von Zeit zu Zeit braucht. Gleichzeitig regt das Buch an, darüber ins Gespräch zu kommen. Einige wenige Textimpulse unterstützen dabei und geben Denkanstöße zu Fragen wie: Wann brauche ich eine Ecke, in die ich mich zurückziehen kann? In welchem Raum? Wie könnte sie gestaltet sein? Welche Dinge gehören unbedingt hinein – und welche nicht? Vor allem aber: Wann, wie und wo fühle ich mich wohl? Wann kann ich ganz bei mir sein?Beim Durchblättern und Betrachten dieses außergewöhnlichen Bilderbuchs erinnerte ich mich an eine Ecke, die es zu Zeiten meiner Kindheit in vielen – vor allem bayerischen – christlichen Häusern und Höfen gab, und die es wohl auch heute noch mancherorts gibt: den sogenannten „Herrgottswinkel“. Auch das war eine besondere Ecke – meist in der Küche, in der Nähe des großen Esstischs –, die bewusst gestaltet wurde: Ein Kreuz, „übers Eck“ aufgehängt, dazu oft ein Marienbild, frische Blumen in einer kleinen Vase und selbstverständlich eine Kerze. Ein Ort, an dem man sich geborgen fühlen konnte, vielleicht sogar zur Ruhe kam – nicht nur beim gemeinsamen Essen mit der Familie, sondern auch im stillen Blick auf den Gekreuzigten in dieser, „Seiner“ ganz besonderen Ecke.Sich in eine Ecke zurückziehen – „zu sich kommen“ – um anschließend umso mehr Gemeinschaft genießen zu können: Auch das ist eine zentrale Botschaft dieses Buches. Am Ende sägt die Krähe sogar ein Fenster in ihre ganz nach den eigenen Bedürfnissen gestaltete Ecke. Denn die Zeit für sich selbst, die heute viel zitierte Selbstfürsorge, ist wichtig. Jede und jeder von uns braucht hin und wieder einen Ort, der Sicherheit und Geborgenheit schenkt. Doch ebenso notwendig ist das „Fenster zur Welt“ – der Blick und die Öffnung hin zu unseren Mitmenschen, zu Freundschaft und Gemeinschaft. Die Anregung durch die Außenwelt und der soziale Kontakt zu anderen ergänzen den Rückzug – nur beides zusammen macht uns wirklich „ganz“. Ein wunderbares, außergewöhnliches Bilderbuch – und ganz bestimmt nicht nur für Kinder sehr zu empfehlen!Zo-O: . Die Ecke. Verlag Urachhaus, 2023. Preis: 16 Euro. ISBN 978-3-8251-5278-9Text: Maria Hauk-Rakos