Von Rainer RuppAls einziges lateinamerikanisches Land unter 41 Nationen war Brasilien in der weltweit größten Cyberkriegsübung "Cooperative Cyber Defence" im NATO-Centre of Excellence in Tallinn, der Hauptstadt Estlands, dabei. Ist das der erste von vielen weiteren Schritten in Richtung NATO, ist es ein einmaliger Ausrutscher oder ein Indiz für Brasiliens zukünftige Schaukelpartie zwischen dem Kollektiven NATO-Westen und den restlichen BRICS-Ländern?In einem Zeitalter, in dem die Fähigkeit, globale Cyberkriege zu führen, von wachsender Bedeutung ist, kann man nachvollziehen, warum Brasilien die Einladung der NATO zur Teilnahme an dem seit 2010 jährlich organisierten Cyber-Manöver "Locked Shields" nicht abgelehnt hat. Es ist immer besser, mehr über die Fähigkeiten eines eventuellen Gegners zu lernen als unwissend zu bleiben. Auch bietet eine solche Veranstaltung die Möglichkeit, für Krisenzeiten eventuell nützliche Kontakte zu knüpfen.Allerdings sieht es so aus, als ob die NATO mit ihrer Einladung noch andere Ziele verfolgte, denn Brasilien war das einzige iberoamerikanische Land unter den 41 Nationen, die nach Tallinn eingeladen waren. Auffällig war, dass traditionelle US-Verbündete in der Region wie Kolumbien, Ecuador oder der enge US-Partner Argentinien unter Javier Milei nicht eingeladen wurden. Dafür hat aber auch das "I" in BRICS, nämlich Indien, an den "Locked Shields" in dem nur 90 Kilometer Luftlinie von der russischen Grenze entfernten Estland teilgenommen.Brasiliens Rolle bei "Locked Shields" 2025Das Training, das vom 5. bis 9. Mai stattgefunden hat, brachte rund 4.000 Experten aus 41 Ländern zusammen, die 8.000 virtuelle Systeme gegen Tausende von Cyberangriffen verteidigen mussten, darunter Bedrohungen für militärische Infrastruktur und Telekommunikationsnetze. Während der diesjährigen Übung, in der ein fiktiver atlantischer Inselstaat zu schützen war, wurden technische Fähigkeiten, strategische Entscheidungsfindung und Resilienz gegenüber Desinformation, Quantencomputing und KI-gestützten Angriffen getestet.Brasiliens Teilnahme geht auf ein Abkommen zurück, das während der Amtszeit des früheren Präsidenten Jair Bolsonaro (2019 bis 2022) unterzeichnet und von der Regierung Lula nicht zurückgezogen wurde. Diese Kontinuität deutet entweder auf bürokratische Nachlässigkeit hin, auf stillschweigende Zustimmung zur Erweiterung des Wissens, auf mangelnden politischen Willen, die USA zu brüskieren, oder es könnte sogar eine Annäherung Brasiliens an westliche Sicherheitsstrukturen signalisieren.Der Jurist und Journalist Raphael Machado, eine prominente Persönlichkeit in Brasilien, betonte in einem Artikel vom 26. Mai 2025 auf Strategic Culture, dass dieser Schritt nach Tallin Brasilien in seiner Cybersicherheit eher einfacher zu verwunden als sicherer gemacht habe. Machado ist vor allem als Präsident der brasilianischen Organisation "Nova Resistência" bekannt, eine patriotische antiimperialistische Bewegung, die sich gegen westliche Einflüsse und neoliberale Globalisierung wendet. Er schreibt regelmäßig für Medien wie Brasil 247, RT, Radio Sputnik und TeleSur.Machado argumentiert, dass angesichts der unterentwickelten Cyberabwehrinfrastruktur Brasiliens die Entscheidung, bei "Locked Shields" in Estland teilzunehmen, den nationalen Interessen widersprach. Das 2016 gegründete Cyber Defense Command (ComDCiber) der brasilianischen Armee beschränke sich nämlich auf den Schutz militärischer Systeme, während zivile und kritische Infrastrukturen ungeschützt bleiben. Ohne eine umfassende nationale Cyberstrategie dürften die Vorteile von "Locked Shields" für Brasilien jedoch gering ausgefallen sein, während die USA und die NATO die Gelegenheit hatten, viel über Brasilien zu erfahren.Strategische Motive und die Anziehungskraft der NATODie Gegenargumente sind, dass die Teilnahme an "Locked Shields" Brasilien Zugang zu modernstem Training, Interoperabilität mit NATO-Systemen und Zusammenarbeit mit globalen Cybersicherheitsexperten verschafft habe, was die Abwehrfähigkeiten potenziell stärken könnte. Daher spiegele Brasiliens Annäherung an die NATO die wachsende Erkenntnis wider, dass in hybriden Konflikten Cyberkriegsführung, bei der staatliche und nichtstaatliche Akteure digitale Schwachstellen ausnutzen, um Wirtschaften und Regierungen zu destabilisieren, eine zentrale Rolle spielt. Als bedeutende Schwellenwirtschaft sei Brasilien zunehmend Cyberbedrohungen ausgesetzt. Ein Bericht von F5Labs hebt hervor, dass die USA und das NATO-Mitglied Litauen die Hauptquellen von Cyberangriffen gegen Lateinamerika sind. Daher sei es wichtig für Brasilien, sich für die Abwehr komplexer Bedrohungen wie Ransomware-Angriffe auf kritische Infrastrukturen zu wappnen.Westliche Experten betrachten Brasiliens Engagement als Teil eines Trends, bei dem Nicht-NATO-Partner durch die Expertise der NATO ihre Cyber-Widerstandsfähigkeit verbessern wollen. "Locked Shields" fördere eine "beispiellose multinationale Zusammenarbeit", die entscheidend für eine erfolgreiche Abwehr sei.Bereits vor einem Jahr, im März 2024, hat Brasilien an der vom Vereinigten Königreich koordinierten Übung "Defence Cyber Marvel 4" teilgenommen, an der auch die Ukraine beteiligt war. Im Oktober 2024 war Brasilien Gastgeber von "Guardião Cibernético 6.0", an dem erneut hauptsächlich NATO-Länder teilnahmen. Diese Aktivitäten deuten darauf hin, dass Brasilien die Integration in westliche Cyberrahmen priorisiert, möglicherweise um regionale Rivalen auszubalancieren oder eine Annäherung an globale Mächte inmitten von Spannungen mit China und Russland zu signalisieren.Risiken der Abhängigkeit und SpionageDer bereits zu Wort gekommene Journalist und Jurist Machado warnt dagegen, dass die NATO-Annäherung Brasiliens eine Abhängigkeit von westlichen Systemen und Doktrinen fördern könnte, was die strategische Autonomie untergräbt. Die Integration in die Cyberstrukturen der NATO könnte erfordern, NATO-kompatible Hardware und Software zu übernehmen, die oft von US-Technologieriesen wie Microsoft stammen, die laut Machado mit "Hintertüren" ausgestattet sind, die der NSA Zugang ermöglichen. Zudem verwies er auf bewiesene NSA-Lecks, die US-Spionage gegen Verbündete wie Deutschland offenlegten. Brasiliens weitverbreiteter Einsatz von Windows-Produkten in staatlichen Institutionen erhöhe dieses Risiko, so Machado.Darüber hinaus nutzt die brasilianische Bundespolizei (PF) die israelische Software "Cellebrite Premium" für Cyberermittlungen, was Bedenken hinsichtlich einer Anfälligkeit für israelische Spionage aufwirft. Historische Vorfälle, wie die mutmaßliche Ermordung eines brasilianischen Kernwissenschaftlers durch israelische Agenten, verdeutlichen diese Risiken.Ein Weg nach vorn: Souveränität versus KooperationBrasiliens Engagement mit der NATO bietet Chancen, die Cyberresilienz zu stärken, jedoch auf Kosten potenzieller Abhängigkeit und Anfälligkeit. Machado plädiert für eine souveräne Cyberstrategie, die einheimische Systeme und regionale Partnerschaften, etwa mit BRICS-Staaten, priorisiert, um die Abhängigkeit von der NATO zu reduzieren. Um Risiken zu minimieren, könnte Brasilien seine Technologieanbieter diversifizieren, lokale Cybersicherheitskompetenzen entwickeln und das Mandat von ComDCiber erweitern, um zivile Infrastrukturen zu schützen. Die Lula-Regierung müsse die Vorteile der NATO-Zusammenarbeit gegen das strategische Gebot der Autonomie in einer multipolaren Welt abwägen.FazitBrasiliens Teilnahme an "Locked Shields" 2025 markiert eine strategische Annäherung an die NATO inmitten wachsender Cyberbedrohungen, wirft jedoch Fragen zur Abhängigkeit und Souveränität auf. Während die Übung wertvolles Training bietet, machen Brasiliens unterentwickelte Cyberinfrastruktur und die Abhängigkeit von ausländischer Technologie das Land anfällig für Spionage und strategische Schwächen.Mehr zum Thema - Lula hält Aufrüstung des Westens für verrückt: Billionen für Krieg statt Billionen für Bildung