Die Gründerinnen von "Vielfältig", Hannah (von links) und Judith Burgmeier, stehen mit Pflegerin Hanna Müller im ständigen Austausch darüber, wie es ihren Klienten geht. Bild: Radio Bremen | Désirée BertramDer Pflegedienst "Vielfältig" ist gegenüber der queeren Community offen und bezieht individuelle Bedürfnisse in seine Pflege ein. Warum das wichtig ist.Bevor Pflegerin Hanna Müller zuhause bei ihrer Klientin Klara eintrifft, weiß sie nicht, in welcher Verfassung sie sie auffinden wird. Denn Klara, die ihren echten Namen nicht veröffentlicht lesen möchte, ist körperlich stark eingeschränkt. Nach einer Corona-Infektion ist sie an Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS) erkrankt.Durch diese neuroimmunologische Erkrankung ist ihr Körper so sehr geschwächt, dass selbst das Sprechen an manchen Tagen zu viel für sie ist. "Ich achte auf Details, etwa ob die Räume durch zugezogene Gardinen abgedunkelt sind und wie kräftig oder zittrig ihre Stimme bei unserer Begrüßung ist", erklärt Müller. Das helfe ihr einzuschätzen, wie es ihrer 40-jährigen Klientin geht: "Es braucht viel Fingerspitzengefühl, um so eine Bindung aufzubauen."An einem "guten" Tag hat Klara genug Kraft für kurze Gespräche. Und diese bedeuten ihr viel: "Ein kurzer persönlicher Austausch ist mir wichtig, da ich fast keinen Besuch empfangen kann." Zudem unterstützt Hanna Müller sie bei allem, was sie seit ihrer Erkrankung nicht mehr könne: Kochen, Abwaschen, Aufräumen, Bett beziehen.Erster Pflegedienst mit Schwerpunkt SexualitätMüller arbeitet für den Bremer Pflegedienst "Vielfältig" – Deutschlands erster Pflegedienst mit dem Schwerpunkt auf Sexualität und geschlechtlicher Vielfalt. Dieser Fokus habe Klientin Klara überzeugt, Hilfe über diesen Dienst zu beziehen: "Es war mir wichtig, einen Pflegedienst zu haben, der individuell auf meine Bedarfe als vergleichsweise junge, lesbische Frau eingeht." Für das Team von "Vielfältig" sei ihr nicht-heteronormativer Lebensentwurf selbstverständlich.Pflege ist sehr privat und dabei ist es grundlegend, sich in den eigenen Räumen gesehen und nicht diskriminiert zu fühlen.Klara, Klientin des Pflegedienstes (Name geändert)Sexualität gehört zum MenschseinGenau dieser Aspekt ist den "Vielfältig"-Gründerinnen ein Anliegen. "Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht über Sexualität zu sprechen, auch im Alter oder bei Pflegebedürftigkeit", erklärt Judith Burgmeier, die den Pflegedienst gemeinsam mit ihrer Frau Hannah Burgmeier im vergangenen Jahr gegründet hat. Denn Sexualität und Identität seien wesentliche Aspekte des Menschseins – das ändere sich nicht, wenn jemand alt oder pflegebedürftig ist.Mit ihrem Dienst adressieren sie jeden und sind explizit offen für queere Menschen und Menschen, die spezielle Bedarfe an pflegerischer Versorgung haben. "Wir wollen das tabuisierte Thema 'Sexualität' besprechbar machen", sagt Judith Burgmeier. Dazu gehört auch die eigene Geschlechtsidentität.Wir sind nicht alle gleich und deshalb behandeln wir auch nicht jeden Menschen gleich, sondern individuell auf die jeweiligen Bedürfnisse abgestimmt.Judith Burgmeier, Gründerin des Pflegedienstes "Vielfältig".Der Pflegedienst schaffe dafür gezielt Räume. Wie diese angenommen werden, sei unter den Klienten verschieden, ergänzt Hannah Burgmeier: "Nur, weil wir den Raum öffnen, heißt das nicht, dass die Menschen auch reingehen." Nicht jeder Klient möchte über seine sexuelle Orientierung sprechen und das ist in Ordnung.Kenntnisse über transsensible PflegeIm Arbeitsalltag zeige das Pflegeteam Offenheit und biete einen Schutzraum vor Diskriminierung. Wie das funktioniert, erklärt Burgmeier an einem konkreten Beispiel: Wenn eine männlich gelesene Person die Tür öffnet und dabei ein Kleid trägt, sei das für den Pflegedienst ganz normal. "Wir nehmen den Menschen so an, wie es die Person selbst möchte und verwenden die selbstgewählten Namen und Pronomen."Dabei vermeide das Team unangemessene Fragen. "Fragen, die vermeintlich aus Interesse gestellt werden, sind oft unangebracht und verletzend – etwa nach vorherigen Namen oder darüber, seit wann jemand 'so lebt'", erklärt Hannah Burgmeier. "Trotzdem müssen sie sich im Alltag solchen Gesprächssituationen immer wieder stellen." Zudem eigne sich das Team des Pflegedienstes Fachwissen zur transsensiblen Pflege an. Dazu gehören Kenntnisse über hormonelle Therapien oder die Pflege nach geschlechtsangleichenden Operationen.Respektvolle PflegepraxisInsgesamt gehe es um eine respektvolle und empathische Pflegepraxis, die Vielfalt anerkennt. Davon profitieren nicht nur die Klienten von "Vielfältig", sondern auch das Personal. So lebt etwa Pflegerin Hanna Müller selbst mit einer queeren Lebensrealität. Die 33-Jährige ist mit einer Frau verlobt. In der Vergangenheit erlebte sie deshalb in ihrem beruflichen Umfeld Diskriminierung, erinnert sich Müller: "Das muss nicht immer offensichtlich passieren, auch Blicke oder Tuscheleien sind verletzend." Dass ihre Klienten ähnliche Lebensrealitäten teilen oder für diese zumindest sensibilisiert sind, tue Müller gut: "Hier werde ich hingegen so gesehen, wie ich bin – ohne, dass ich mich erklären oder rechtfertigen muss."Information zum ThemaDer Pflegedienst "Vielfältig"Als Judith und Hannah Burgmeier ihren ambulanten Pflegedienst "Vielfältig" gründeten, wussten sie bereits, dass sie mit diesem Angebot "klein bleiben wollen". Und daran halten sie nach wie vor fest – obwohl die Nachfrage nach ihrer Pflege, die das Thema Sexualität in den Pflegeprozess einbezieht, groß ist. Derzeit pflegt der zehnköpfige Dienst 19 Klientinnen und Klienten aus Bremen. "Sexualität und geschlechtliche Identitäten sind nicht nur für junge Menschen wichtig, sondern für alle Altersgruppen", sagt Geschäftsleiterin Judith Burgmeier.Deshalb wollen die Gründerinnen andere Einrichtungen, egal ob Pflegedienst oder Krankenhaus, sensibilisieren. "Wir bieten bundesweit Vorträge, Workshops, Seminare und Fortbildungen für das Gesundheitswesen zu den Themen Sexualität und Diversität an", sagt Burgmeier. Generell müsse sich viel in Gesundheitseinrichtungen ändern. Die sexuelle Identität werde oft fokussiert, wenn es gar nicht darum gehen sollte. Etwa wenn eine Transperson mit einem gebrochenen Arm ins Krankenhaus kommt, erklärt Burgmeier: "Es sollte einfach der Bruch behandelt werden, dieser Fokus verschiebt sich aber, weil die Frage geklärt werden muss, ob die Person in ein Frauen- oder Männerzimmer eingeteilt werden soll." Hier sieht Burgmeier eine strukturelle Diskriminierung.Ende der Information zum ThemaMehr zum Thema:AutorinDésirée Bertram AutorinQuelle: buten un binnen.Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Der Nachmittag, 13. August 2024, 15:10 Uhr