Zwischen Tradition und Wandel: Die lebendige Kraft der Liturgie

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Die Theologin Rowena Roppelt von der School of Transformation and Sustainability der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt spricht über die Kraft religiöser Rituale und deren Bedeutung für Kirche, Gesellschaft und Individuum. Im Interview erklärt sie, warum Liturgie nur dann wirkt, wenn sie authentisch ist, sich weiterentwickelt und Menschen aktiv einbindet.Warum sind Rituale für Menschen überhaupt im Alltag wichtig – auch außerhalb der Kirche?Rowena Roppelt: Rituale nehmen eine zentrale Stellung in der dynamischen und fortwährenden Entwicklung von Gesellschaften ein und leisten zugleich einen wesentlichen Beitrag zur Persönlichkeitsentfaltung des Einzelnen. Sie stiften, reflektieren und wandeln Bedeutungen, während sie Überzeugungen und Werte zum Ausdruck bringen. Durch die bewusste Teilnahme an Ritualen verinnerlichen Individuen die Werte ihrer Gemeinschaft und entwickeln einen Bezugsrahmen, der ihnen ermöglicht, ihre Lebenswelt zu verstehen und einzuordnen. Rituale bilden ein vielschichtiges Geflecht aus symbolischen Gegenständen, Handlungen, Worten, Gesten, sozialen Beziehungen und räumlicher Gestaltung, durch das sowohl Gesellschaften als auch die in ihnen eingebetteten Individuen fortlaufend geformt werden.Warum wirken viele liturgische Formen in der katholischen Kirche (z.B. im Gottesdienst) auf Außenstehende altmodisch – und ist das ein Problem oder vielleicht sogar ein Schatz?Die Liturgie der Kirche ist eine Begegnung – eine Begegnung zwischen Gott und den Menschen, die das Selbstverständnis, den Weltblick und das Handeln der Teilnehmenden nachhaltig prägt. Die Konstitution Sacrosanctum Concilium über die Heilige Liturgie beschreibt sie als Quelle und Höhepunkt des Lebens der Kirche, die den „wahren christlichen Geist“ formt. Die Zeichen, symbolischen Handlungen, Texte und Riten, die über Jahrhunderte hinweg in der Kirche gefeiert wurden, sind ein großer Schatz, da sie den Teilnehmenden helfen können, Gott im eigenen Leben und in der Welt zu erkennen. Sie sind die Bausteine, durch die die Begegnung mit Gott möglich wird.Dieser Schatz muss jedoch immer wieder neu interpretiert und umgesetzt werden. Wie in Sacrosanctum Concilium deutlich wird, besteht die Liturgie aus unveränderlichen Elementen und solchen, die dem Wandel unterliegen (SC 21). Rituale können eine positive Wirkung entfalten, sie können jedoch auch manipulieren oder unterdrücken – oder ihre Relevanz verlieren, wenn ihre Worte und Symbole den Bezug zur Erfahrung der Teilnehmenden einbüßen. Dieses Spannungsfeld erfordert eine Neubewertung dessen, was Liturgie ausmacht, sowie die Bereitschaft, ihren Rahmen zu erweitern. Versteht die Kirche Liturgie als etwas Starres statt als etwas Dynamisches, verliert sie ihre Fähigkeit, den christlichen Horizont zu vermitteln. Die Weiterentwicklung der Liturgie ist daher eine ständige Aufgabe der Kirche.Warum muss man in der Kirche manchmal stehen, sitzen oder knien – und was sagt das über unser Verhältnis zu Gott? Leiblichkeit ist eine grundlegende Voraussetzung menschlicher Existenz. Wir besitzen nicht einfach einen Leib – wir sind Leib. Unsere Fähigkeit, uns auszudrücken, zu kommunizieren und Beziehungen zu gestalten, ist nur durch und mit unserem Körper möglich. Die Menschwerdung Jesu zeigt, dass Gott diese Leiblichkeit des Menschen ernst nimmt: Er begegnet uns als Mensch unter Menschen. Da diese Begegnung mit Gott in der Liturgie weiterlebt, muss auch hier die Leiblichkeit besondere Beachtung finden.Liturgie ist nicht nur gesprochene Begegnung; wir sind mit Leib und Seele beteiligt, und Körperhaltungen bringen unseren Dialog mit Gott mitten in der Gemeinde zum Ausdruck. Beim gemeinsamen Beten stehen wir als getaufte Kinder Gottes, die würdig sind, vor Gott zu treten. Beim Hören der Heiligen Schrift oder der Homilie sitzen wir, um in Ruhe Gottes Wort aufzunehmen. Zur Lesung des Evangeliums erheben wir uns, um Christus zu begrüßen und zu ehren. Das Knien schließlich drückt besondere Demut vor Gott aus. Solche Gesten sollten nicht aus bloßer Tradition oder „Gruppenzwang“ erfolgen, sondern authentisch sein. In Jugendgottesdiensten erlebt man daher oft vielfältigere Körperbewegungen als in den üblichen Sonntagsgottesdiensten – und solche Formen sollten ihren Platz haben. Denn Liturgie – wie alle Rituale – ist dynamisch und entwickelt sich fortlaufend weiter.Wenn Jesus heute in einem Gottesdienst sitzen würde, würde er sich wiedererkennen?Das weiß ich nicht. Ich bin mir jedoch sicher, dass er durchaus bereit wäre, Kritik an der Liturgie zu üben – so wie er es damals im Tempel oder gegenüber den Pharisäern getan hat. Er war schließlich ein Verfechter der Auffassung, dass das Ritual für den Menschen da sein soll – und nicht der Mensch für das Ritual.