Der Auftritt von Anna Netrebko in Verdis La forza del destino am Opernhaus Zürich am 27. Oktober (fünf weitere Vorstellungen geplant) war weit mehr als ein musikalisches Ereignis. Es war ein politischer Moment – ein Lehrstück über Mut, Freiheit und die dünne Schicht bürgerlicher Zivilisation, die allzu rasch in Empörungsrhetorik und Empörungsbewirtschaftung umschlägt.Schon im Vorfeld hatte sich ein orchestriertes Kesseltreiben gegen die russische Sopranistin entfaltet. Teile der Medien, politische Stimmen und diplomatische Vertreter forderten lautstark, Netrebko dürfe in der Schweiz nicht auftreten. Besonders aktiv war die ukrainische Botschafterin Iryna Venediktova, die offen auf ein Auftrittsverbot drängte. Unterstützt wurde sie von bekannten Namen aus Politik und Gesellschaft – darunter Berns Sicherheitsdirektor Alec von Graffenried und die ehemalige FDP-Nationalrätin Christa Markwalder, die eine Petition gegen die Künstlerin unterzeichneten.Was als moralischer Appell getarnt war, entpuppte sich als kulturpolitische Hexenjagd. Eine Opernsängerin sollte für die Verbrechen eines Regimes büßen, von dem sie sich längst distanziert hatte. Dass Netrebko nach dem russischen Überfall auf die Ukraine bereits öffentlich den Krieg verurteilt hatte, interessierte kaum jemanden. Der mediale Reflex war stärker als die Fakten.Am Ende standen keine Demonstrationen von Tausenden, sondern ein kleines Grüppchen Aktivisten vor dem Opernhaus. Drinnen jedoch tobte das Publikum – vor Begeisterung. Doch die Szene, die sich hinter den Kulissen abspielte, war bezeichnend für den Zustand westlicher Debattenkultur: Eine Sängerin, begleitet von Bodyguards, geschützt wie ein Staatsgast, nur weil sie wagt, Kunst zu machen.Dass es überhaupt so weit kommen konnte, ist nicht allein den Aktivisten zuzuschreiben, sondern einem Medienklima, das sich der moralischen Aufrüstung verschrieben hat (nicht so auf der Plattform J, wo der profilierte Kulturjournalist Peter Wäch schreibt). Öffentlich-rechtliche Sender und große Zeitungen hatten die Stimmung wochenlang angeheizt – mit Fragen nach politischer Haltung statt musikalischer Qualität.Dem neuen Zürcher Opernhausdirektor Matthias Schulz gebührt in dieser Situation besonderes Lob. Er widerstand dem Druck, den Auftritt abzusagen, und setzte ein Zeichen für künstlerische Freiheit. Es war, so der Tenor vieler Beobachter, eine Haltung, die man sich auch von Teilen der Schweizer Politik wünschen würde – dort, wo ein woker Windhauch oft genügt, um Prinzipien zu verwerfen.Schulz' Entscheidung wurde belohnt: Das Publikum feierte Netrebko mit stehenden Ovationen, minutenlangem Applaus und Bravorufen. Kein einziges Buh war zu hören – dafür ein kollektiver Befreiungsmoment. Es war, als ob die Zuschauer der Schweiz beweisen wollten, dass Kunst noch immer über Kampagnen steht.Die Inszenierung von Valentina Carrasco verlagerte Verdis Werk in die Schweiz des Jahres 2025 – in ein Land im Ausnahmezustand, zwischen zerstörten Versicherungszentralen und UNO-Ruinen. Auf der Bühne herrschte Krieg – fiktiv, pathetisch, überzeichnet. Doch der eigentliche Krieg spielte sich im gesellschaftlichen Raum ab: zwischen Freiheit und Moralismus, zwischen Kunst und Gesinnung.Carrascos Versuch, Verdis Forza als Allegorie auf das heutige Europa zu lesen, wirkte streckenweise unbeholfen. Drohnen, Trümmer, Uniformen – all das war Theater, kein Realismus. Doch über diesen szenischen Schwächen thronte eine musikalische Größe, die jede politische Aufladung überstrahlte: Anna Netrebko als Donna Leonora.Netrebko, 54, ist eine Künstlerin, die sich nicht versteckt. Ihr dunkler, samtener Sopran, die emotionale Tiefe und technische Präzision ihrer Darbietung ließen keinen Zweifel: Hier stand eine der größten Sängerinnen unserer Zeit auf der Bühne. Nach «Son giunta!» im zweiten Akt explodierte der Saal – ein Moment, der zeigte, dass Kunst noch immer stärker ist als jede Kampagne.Ihr Auftritt wurde zu einem Symbol. Er zeigte, dass das Publikum zwischen Politik und Poesie unterscheiden kann. Dass Vergebung und Freiheit noch Werte sind, die zählen. Und dass das westliche Bedürfnis, Menschen auf Linie zu bringen, dort an seine Grenzen stößt, wo wahre Kunst beginnt.Der Abend offenbarte ein Paradox: Während auf der Bühne Bomben fielen, spielte sich vor dem Opernhaus das viel größere Drama ab – das Ringen um Meinungsfreiheit. Eine Sängerin musste gegen ein Klima der Einschüchterung ansingen, gegen das Schweigen jener, die von sich behaupten, tolerant zu sein.Der Fall Netrebko steht exemplarisch für eine Zeit, in der Moralpolitik und Cancel Culture an die Stelle von Argument und Kunstverständnis treten. Die Schweiz, lange stolz auf Liberalität und Neutralität, zeigte in diesem Fall, wie schnell auch sie in den Strudel der ideologischen Empörung geraten kann.Die eigentliche Botschaft des Abends kam nicht aus dem Orchestergraben, sondern von der Bühne selbst: Freiheit beginnt da, wo Kunst sich nicht rechtfertigen muss. La forza del destino – die Macht des Schicksals – bekam in Zürich eine neue Bedeutung. Das Schicksal, so schien es, hat entschieden: gegen Cancel Culture, für Kultur.Anna Netrebko hat an diesem Abend nicht nur Verdi gesungen. Sie hat – ganz ohne Worte – eine politische Rede gehalten. Eine Arie für die Freiheit, lauter als jede Petition.