Hinweis: der Text ist ein Auszug aus (Witsch 2012, S. 162 – 165)Vor Gott sind alle Menschen gleich; Gott ist freilich, einer Schuldverschreibung gar nicht so unähnlich, ein Versprechen, das sich nicht einlösen lässt. Bloße Verheißung, ebenso Grundrechte, die sich nicht einklagen lassen; nur wenn sie sich einklagen lassen von jedem beliebigen Subjekt, bilden sie gegen die Bestandsregung, resp. gegen das schöne Gefühl, das nicht sterben möchte, eine Gewissheit ab, die für das menschliche Leben von praktischer Bedeutung ist, an der sich Leben messen lassen kann, um nicht immer nur um und in sich selbst zu kreisen.In der Recherche von Marcel Proust ist ganz analog die Rede von den eigentümlichen Gewissheiten eines Zimmers im Widerstreit zum schönen Gefühl des Ich-Erzählers, in dem dieser Glück erlebt. Das egozentrierende Gefühlsdelirium ist indes nicht in der Lage, den anderen: so etwas wie (die) reale Welt (seines Zimmers), einzubeziehen, als sozialen Vorgang zu konstituieren, mag dieser auch noch so vertraut sein; im Zweifel wird der intime Freund – die lebenslange Beziehung – verraten, vielleicht mit viel Rührseligkeiten in Bezug auf belanglose Alternativen im Gepäck, belanglos in dem Sinne, dass sie Bewegungslosigkeiten, die sich im Windschatten von Rührseligkeiten zu verstecken vermögen, nicht aufheben. Am Ende bleibt immer alles wie es ist, festgefügt, wie vorher, bewusstlos, naturwüchsig generiert. Oder das Neue wird missbraucht für eine Bewegung, die sinnlos um und in sich selbst kreist; im Struktur- und Prozessfetisch (Witsch 2009, S. 38f).Entsprechend interpretiere ich Proust im letzten Band seiner Romanserie Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, ausgehend von einer Stelle, die auf mich zunächst, als ich sie zum ersten Mal las, befremdlich wirkte, die für mich heute mithilfe entsprechender Begrifflichkeiten deshalb so schön ist, weil sie die Vorstellungswelt (den Konstruktivismus) mit den Erlebnisschichten der Vergangenheit konfrontiert: im Widerstreit zum Tatsachenfetisch, resp. zur tatsachenfixierenden Bestandsregung, die ihre Glücksmomente aus dem schöpft, was sie zu ihrem Leidwesen egozentrierend weder zu bewahren noch bewusst zu erzeugen vermag, um sich mit dem Unvermeidlichen, dem Tatsächlichen, den Zimmergewissheiten (die für beliebige Gewissheiten stehen), abzufinden, apolitisch, naturwüchsig; denn die Gewissheiten: das, was aus der Bestandsregung heraus hinter dem Rücken des Sozius Tag für Tag reproduziert wird, steht, unterbrochen von flüchtigen Glücksmomenten, zu keinem Zeitpunkt zur Disposition, freilich durch Glück rührselig befärbt, dadurch quasi-unantastbar, tatsachenfetischisierend im Wahn (Witsch 2009, S. 93f) Im Tatsachenwahn ist angedeutet, wie der Sozius mit der Enttäuschung umzugehen vermag: Der Huldigungswahn (Heil Hitler) entschädigt exzessiv, von Zeit zu Zeit entschärft durch ein paar Rührseligkeiten (schließlich kann man nicht unentwegt Heil Hitler brüllen), den Sozius dafür, dass er das schöne Gefühl nicht zu bewahren vermag. Es findet eine Verschiebung des Gefühls im Objektbezug statt, das heißt, das Gefühl wechselt das Objekt der Begierde, um seine Enttäuschung zu verbergen (aaO, S. 18). Es ergießt sich libidinös auf etwas (eine Struktur: durch ein Symbol, die große Führungspersönlichkeit, repräsentiert), das sich problemlos behuldigen lässt, problemlos deshalb, weil das Objekt weit weg ist wie Gott, im Grunde gar nicht da, bzw. nur als Mythos, mithin symbolisch präsent, zu dem sich daher aufschauen lässt, in der Lage, das schöne Gefühl unendlich zu verlängern auf eine Verheißung hin, dazu verurteilt, geträumt oder phantasiert zu werden (aaO, S. 132).»Fast möchte man meinen, Objekte der Huldigung stehen für die unendliche Verlängerung der Erektion« (aaO, S. 137)Nur dass das Bild eines Arsches sein Versprechen nicht einlöst, sobald dieser sich nicht mehr nur symbolisch, als unwirkliche Vorstellung, sondern real einmischt. Der Führer tritt uns nie als reale Person gegenüber, vielmehr – wie Gott – als Unperson, als unwirkliche, praxisferne Konstruktion, unwirklich im doppelten Sinne, weil sie die Wirklichkeit nie berührt, wie die Würde, wenn sie sich in Gestalt konkreter Grundrechte nicht einklagen lässt; erst auf der Basis einklagbarer Grundrechte ist Wirklichkeit kritisch berührbar. Ohne Bezug zur kritisierbaren Realität werden Gefühle wahnhaft generiert, eine seelische Disposition, die ihre krankhaften Züge immer weniger zu verhehlen vermag, je mehr die Bilder, aus denen sie Erregung schöpft, im tiefen Brunnen der Geschichte verschwimmen: Heute ist Hitler nur noch eine unwirkliche, unfassbare Figur (der Geschichte), die sich weder hassen noch lieben lässt, es sei denn im Wahn als absolute Kunst-, Kitsch- oder Horrorfigur, wie das Filme von Guido Knopp nahelegen.Doch ist das Huldigungsgefühl von allem Anfang an nur erbärmlicher Ersatz, mit dem sich die Bestandsregung, bzw. das darauf aufbauende sozialstrukturelle Bestandsinteresse abspeisen lässt, ggf. auch mit bösen Folgen: die überwiegende Mehrheit der Menschen verspürten im Nationalsozialismus Glück; doch wer nicht spurte, sah sich schnell ausgegrenzt. Das Gefühl lässt sich nicht straflos in den Dreck ziehen, indem der Führer, auf den es sich richtet, in den Dreck gezogen wird. Das bringt die Verehrung mit sich, die ihre Sündenböcke braucht und generiert. Heute gibt es für jeden etwas, sozusagen ein Gemischtwarenhandel ausgestoßener oder diskriminierbarer Objekte: Menschen und Gruppen, damit auch jeder zu seinem ganz persönlichen Juden kommt, auch die niederste Existenz. Teile und herrsche in Perfektion. Früher waren es Juden, heute sind es Ausländer, Hartzler und Straftäter, die anders sind und deshalb nicht dazugehören. Für sie gelten Grundrechte bestenfalls eingeschränkt. Man glaubt, der Gleichheitsgrundsatz ginge in dem formalen Prinzip auf, demzufolge vor dem Gesetz alle gleich seien. Strukturen brauchen aber Grundrechte, die so formuliert sind, dass sie auf etwas zeigen, das sich konkret einklagen lässt. Nur konkret einklagbare Grundrechte können als Maß dienen, an dem Strukturen sich messen lassen können; ein formaler Maßstab ist für das in eine Struktur involvierte Subjekt belanglos. Strukturen sind (für das einzelne Subjekt) nicht kritisierbar und damit nichts wert, wenn sie sich nicht messen lassen an einklagbaren Grundrechten, die überdies für alle gelten müssen, auch für den Straftäter, oder sie gelten gar nicht.Das nicht zu verstehen oder mehr noch: das nicht leben zu können, weil es im Falle eines Kindesentführers weh tut, ein schlechtes Gefühl verursacht, mit dem der Sozius nicht umgehen möchte, ist vielleicht der tiefere Grund, warum Menschen mit sich nichts anfangen können und soziale Strukturen auseinanderfallen. Sie sind atomisiert und fügen sich nicht mehr zusammen oder nach dem Zufallsprinzip, in dem Sinne, dass Informationen zwar fließen, ohne indes im interaktiven Kontext etwas zu besagen.Nichtssagendes breitet sich aus, exzessiv, weil das Anderssein zunehmend diskriminierend wahrgenommen wird, und Differenzen nur ohne viel Mühe ausgetauscht werden wollen. Heute dürfen wir gar nichts mehr voraussetzen, keine Begriffe, denen eine feste Bedeutung zukommt; das würde sofort missverstanden werden in dem Sinne, dass es so etwas gäbe. Das heißt, wir müssen ganz von vorne anfangen, beim Einmaleins auf der grünen Wiese.Um auf unseren Ausgangspunkt zurückzukommen; wir sagten, das Zeichen stehe nicht für einen Gegenstand; das müssen wir zunächst wie folgt verstehen: ein Gegenstand bildet sich im intersubjektiven Kontext als problematische und problematisierende Entität heraus – in gewisser Weise absurd, vermag das Zeichen im sprachgestützten intersubjektiven Kontext den Gegenstand doch nicht unabhängig von der Existenz fest umrissener Bedeutungen abzubilden; so dass man meinen möchte, dass man sich auf Bedeutungen, die im Inneren entstehen, nicht immer wieder neu einigen, sich ihrer nicht immer wieder vergewissern muss; sprich: das Zeichen existiert nicht, weil ihm ein Gegenstand gegenübersteht, sondern weil es Kommunikation gibt über Zeichen, die sich zuweilen weltschöpfend gerieren (im Anfang war das Wort), die indes, befreit vom Repräsentationsprinzip, gehalten sind, sich aus sich selbst heraus immer wieder neu zu erfinden, um sich zugleich an etwas zu bemessen, das diesem kommunikativen Kontext fremd ist (Witsch 2015, S. 122 – 129). Fremd, weil er sich, zusammen mit seinen Zeichen, also sprachgestützt, immer wieder neu aus der fundamentalen Bestandsregung (Witsch 2009/04/30), dem egozentrierenden Gefühlsimpuls heraus, bildet, der von einem Begriff: erst noch zu generierenden Zeichen, nichts weiß.Quellen Witsch, Franz (2009/04/30). Das Unbehagen der Kultur in der menschlichen Natur.Witsch, Franz (2009). Die Politisierung des Bürgers. Beiträge zur Wahrnehmung und Produktion sozialer Strukturen. Erster Teil: Begriff der Teilhabe. Norderstedt. Verlag: BoD (zitiert nach der Ausgabe von 2015).Witsch, Franz (2012). Die Politisierung des Bürgers. Beiträge zur Wahrnehmung und Produktion sozialer Strukturen. Zweiter Teil: Mehrwert und Moral. Norderstedt. Verlag: BoD (zitiert nach der Ausgabe von 2017).Der Beitrag Das Gefühl weiß nichts von einem Begriff erstrahlte zuerst auf QPress.