Wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier von den wahren Gefahren und Gefährdern für die Demokratie ablenktEin Kommentar von Tilo Gräser (apolut)„Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher!“An diese Erkenntnis von Bertolt Brecht, die er im Stück „Das Leben des Galilei“ niederschrieb, musste ich angesichts der jüngsten Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 9. November denken.Nun will ich den derzeitigen Bundespräsidenten nicht einen Lügner nennen, noch will ich ihn als Verbrecher bezeichnen. Ich denke, dass der Jurist mit Doktortitel im Schloss Bellevue durchaus kein unwissender Dummkopf ist. Aber wenn er das, was er am Sonntag sagte, wider besseres Wissen von sich gab, muss ich es zumindest als gefährlich ansehen. Weil er mit dieser Rede etwas tat, was er darin anderen vorwarf: Ausgrenzen, spalten, diffamieren sowie Tatsachen verdrehen und verschweigen. Es erinnert zumindest an eine alte Verbrechermethode, wonach der Räuber ruft „Haltet den Dieb!“Das geht los mit dem Datum, das den Anlass gab und mehrfach in der deutschen Geschichte eine historische Bedeutung erlangte. Er meinte, dieser Tag berühre „unser Selbstverständnis als Deutsche“, weil es um „den Kern unserer Identität“ gehe. Schon, dass er nur auf das Datum in den Jahren 1918, 1938 und 1989 blickte, zeugte von (Selbst)Beschränkung und (absichtsvollem) Weglassen.Niederlage der DemokratieDenn in die historische Reihe gehört ebenso der 9. November 1848: An dem Tag wurde mit der Hinrichtung des linksliberalen Revolutionärs Robert Blum die bürgerlich-demokratische Revolution in Deutschland endgültig zu Grabe getragen. An dem Tag entmachteten in Berlin die preußischen Truppen unter General Friedrich von Wrangel die Bürgerwehr der Stadt, die die parlamentarische Demokratie verteidigen wollte. Die „halbe Revolution“ der Deutschen endete mit dem Sieg „einer ganzen Konterrevolution“ der alten Fürstenmacht, kommentierte Karl Marx damals lakonisch in der Neuen Rheinischen Zeitung die Ereignisse.Warum hat der Sozialdemokrat im Schloss Bellevue das wohl ausgelassen? Ausgelassen hat er auch etwas beim Blick auf den 9. November 1918, „als die Demokratie siegte“, wie er behauptete: An dem Tag wurde gleich zweimal eine deutsche Republik ausgerufen, einmal vom SPD-Politiker Philipp Scheidemann, und dann zwei Stunden später vom ehemaligen SPD-Abgeordneten Karl Liebknecht die „freie sozialistische Republik Deutschland“. Liebknecht wurde im Januar 1919 gemeinsam mit seiner Mitstreiterin Rosa Luxemburg ermordet – im Auftrag jener, die mit Hilfe der SPD und ihrer Scheidemänner keine wirklichen Veränderungen in Deutschland wollten und dafür sorgten, dass im Gewand der Demokratie die alten Machtverhältnisse restauriert und gesichert wurden. Wohin das führte, zeigte sich bereits am 9. November 1923, als Adolf Hitler gemeinsam mit dem Reichswehr-General Erich von Ludendorff in München einen Putschversuch unternahm. Auch diesen Tag ließ Steinmeier aus.Zu widersprechen ist dem Bundespräsidenten gleichfalls, wenn er sich auf den 9. November 1989 beruft: In den letzten Stunden dieses Tages vor 36 Jahren öffnete eine völlig überforderte Partei- und Staatsführung des zweiten deutschen Staates, der DDR, überraschend die eigene Grenze. Seitdem wird vom „Mauerfall“ gesprochen, auch wenn keine Mauer fiel, sondern eben eine Grenze geöffnet wurde – immerhin die zwischen zwei deutschen Staaten und zwei mit Atomwaffen versehenen politischen Blöcken. Das war nicht die Tat vermeintlich mutiger DDR-Bürger, sondern mutmaßlich der verzweifelte Schritt der DDR-Führung, um Herr der Lage im eigenen Land zu bleiben. Das ging auch durch seine dilettantische Umsetzung sprichwörtlich nach hinten los.Seitdem wird das Ereignis von jenen und ihren politischen Nachfolgern offiziell gefeiert, die zur Grenzöffnung vor 36 Jahren nur insofern beitrugen, indem sie die DDR nie als eigenständigen Staat anerkannten, ihre Existenz mit allen Mitteln bekämpften – und dann selbst überrascht waren, als die DDR-Bürger durch die offene Grenze in den Westen kamen. Diejenigen, die sich im Herbst 1989 für demokratische Veränderungen in der DDR einsetzten, gehören zu den Verlierern des 9. November 1989. Auch jene, die diese demokratischen Impulse in die vergrößerte Bundesrepublik einbringen wollten. Das hat Steinmeier ebenfalls ausgelassen.Geschichtsvergessene DemagogieEr hat zumindest – wenn auch anders als von ihm gemeint – mit seiner Aussage recht:„Der 9. November macht es uns wahrlich nicht einfach. Aber gerade deshalb erzählt er uns viel über uns und unser Land. Wir müssen hinhören!“Es muss genau hingehört und gelesen werden, was der derzeitige Bundespräsident da von sich gab. Auch indem er sich auf den 9. November 1938 berief und tatsächlich behauptete, heute drohe Deutschland eine ähnliche Gefahr wie damals. Steinmeier ließ aus, dass Hitler und den von ihm geführten Faschisten am 30. Januar 1933 die Macht übergeben wurde – von jenen, die schon 1918 dafür sorgten, dass die wahren Macht- und Herrschaftsverhältnisse in Deutschland unangetastet bleiben. Zu den Folgen gehörte die „Reichskristallnacht“, als in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 die faschistischen SA-Truppen und SS-Angehörige die jüdische Bevölkerung angriffen und deren Geschäfte und Synagogen verwüsteten und in Brand steckten.Das war die Einleitung der späteren planmäßigen Judenvernichtung in Deutschland, die die deutschen Faschisten auf ganz Europa und bis in die Sowjetunion ausweiteten. Der Bundespräsident erinnerte zwar an die Judenvernichtung, aber ein weiteres Mal nicht an den faschistischen deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion mit seinen 27 Millionen Opfern im überfallenen Land. Die Teilung Deutschlands und die Gründung der DDR im Oktober 1949 war eine der Konsequenzen und der Versuch einer Antwort auf die unbeschreiblichen Verbrechen der deutschen Faschisten und des „fruchtbaren Schoßes“ (Brecht), aus dem sie krochen. Weiß das der studierte und promovierte Jurist etwa nicht?Stattdessen malte er Gefahren für die bundesdeutsche „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ an die Wände seines Amtssitzes, denen „illusionslos ins Auge“ zu sehen sei. Das, was er von sich gab, ist nicht nur geschichtsvergessen, sondern auch gegenwartsignorant zu nennen:„Nie in der Geschichte unseres wiedervereinten Landes waren Demokratie und Freiheit so angegriffen. Bedroht durch einen russischen Aggressor, der unsere Friedensordnung zertrümmert hat, und gegen den wir uns schützen müssen. Und aktuell bedroht durch rechtsextreme Kräfte, die unsere Demokratie angreifen und an Zustimmung in der Bevölkerung gewinnen.“Nicht Russlands Präsident Wladimir Putin und auch nicht politische Kräfte wie die demokratisch im Bundestag vertretene Alternative für Deutschland (AfD) sind eine Gefahr für die Bundesrepublik und ihre Gesellschaft. Dass in dieser „eine große Unruhe“ herrscht, dafür sind jene verantwortlich, die seit Jahren das Land regieren und wider ihres Amtseides nach Artikel 56 des Grundgesetzes handeln. Zu diesen hat auch Steinmeier als Außenminister gehört, von 2005 bis 2009 und von 2013 bis 2017. Der Amtseid verpflichtet die Regierenden eigentlich, Schaden vom deutschen Volk und vom eigenen Land abzuwehren.Straflose DemagogieDoch sie tun genau das Gegenteil, ohne dass sie dafür zur Verantwortung gezogen werden können – und sorgen stattdessen für das, was Steinmeier in seiner Rede beklagte. So schrieb er den wachsenden Unmut in der Bevölkerung ob der regierenden Politik dem Wirken von „extremen Parteien“ zu, wobei er die AfD zwar nicht nannte, aber eindeutig meinte. Er hat dabei ausgelassen, dass es die Politik der Regierenden ist, die für die Probleme des Landes und den dadurch verursachten Unmut der Menschen sorgt: mit ihrer antirussischen Politik und deren wirtschaftlichen Folgen, ihrer Aufrüstung auf Kosten der Schwachen und Schwächsten in der Gesellschaft, ihren Geldgeschenken an die Ukraine bei gleichzeitigen Kürzungen für die eigene Bevölkerung und so weiter und sofort. Die Liste ist lang und wurde nicht erst im Februar 2022 begonnen. Sie wird nicht von der AfD mit Inhalt gefüllt – weil sie nicht mitregiert und das (noch) nicht darf.Steinmeier hat jenen, die er als Demokratiefeinde ausmacht, deutlich gedroht: Dazu seien „im Grundgesetz wie im Strafrecht Instrumente festgeschrieben, um unsere Freiheit zu schützen vor denen, die sie angreifen. Wir haben diese Instrumente in der Hand!“ Er hat den Rechtsstaat als „entscheidend für die Verteidigung der Demokratie“ bezeichnet und erklärt: „Wir können handeln, wenn wir wollen.“Die ausgemachte Drohung war von Steinmeier nicht zu hören, als im März 2020 mit der politisch verursachten Corona-Krise die Gesellschaft in Geiselhaft genommen wurde. Da war er schon Bundespräsident und hat selbst mit „Fake News“ Angst geschürt. In dieser Zeit wurde staatlich gefördert, was er heute bei anderen bekämpfen will: „Die Lügen, die Demagogie, die Hetze, der Hohn und der Hass“. Der Jurist, der es hätte besser wissen und machen müssen, war beteiligt an dem massivsten Angriff auf die auf dem Grundgesetz gegründete bundesdeutsche Demokratie in deren Geschichte. So sprach er am 11. April 2020 unter anderem:„Es ist gut, dass der Staat jetzt kraftvoll handelt – in einer Krise, für die es kein Drehbuch gab. Ich bitte Sie auch alle weiterhin um Vertrauen, denn die Regierenden in Bund und Ländern wissen um ihre riesige Verantwortung.Doch wie es jetzt weitergeht, wann und wie die Einschränkungen gelockert werden können, darüber entscheiden nicht allein Politiker und Experten, sondern wir alle haben das in der Hand, durch unsere Geduld und unsere Disziplin – gerade jetzt, wenn es uns am schwersten fällt.“Er redete von einer „Demokratie, in der wir einander zutrauen, auf Fakten und Argumente zu hören, Vernunft zu zeigen, das Richtige zu tun“ – und schritt kraft seines Amtes nicht ein, als die regierende Politik, unterstützt von den mit ihr verbundenen Medien, genau das Gegenteil tat und mehrere Grundrechte außer Kraft setzte. Auch nicht, als viele Menschen, die an dem zweifelten, was ihnen erklärt wurde, oftmals aufgrund ihrer fachlichen Kenntnis, und die ihr Recht auf demokratischen Widerstand wahrnahmen, nicht nur diffamiert, sondern auch ihrer Existenzen beraubt wurden. Es traf Lehrer, Ärzte, selbst Richter, Wissenschaftler, Journalisten, ganz normale Bürger – auch diese Liste ist lang. Und bis heute wird das Unrecht durch die „Instrumente“ des Rechtsstaates, der außer Kraft gesetzt wurde, fortgesetzt. Nicht zu sprechen von der fehlenden Wiedergutmachung für die Opfer der Maßnahmen und der Kampagne zum Wohle der Pharmaindustrie, Millionen Menschen experimentelle Stoffe zu spritzen, die nicht einmal nach allen bis dahin geltenden Regeln genügend ausgetestet waren.Mit Blindheit geschlagenHeute will Steinmeier sich für eine „transparente Aufarbeitung der Corona-Zeit“ einsetzen, wie er im März dieses Jahres erklärte. Ziel müsse es sein, „in Zukunft noch resilienter und stärker zu sein – und damit auch unsere Demokratie zu schützen und zu stärken“. Das wirkt genauso wie Hohn wie seine Rede vom letzten Sonntag, als er wieder dazu aufrief. „unsere Demokratie zu schützen und zu stärken“.Steinmeier warnte vor Angriffen auf die Unabhängigkeit und die Legitimität der Justiz, die nicht infrage gestellt werden dürfe. Meint er das wirklich ernst angesichts der zahlreichen Beispiele aus der Corona-Krise, als die Justiz zum Büttel einer diktatorisch agierenden Regierungspolitik gemacht wurde und sich machen ließ? Und die selbst gegen einen Richter wie Christian Dettmar aus Weimar zum Einsatz kam, der nach Sachkunde und Vernunft gegen die Maskenpflicht an zwei Schulen entschied.Der Bundespräsident forderte die Beamten und öffentlich Bediensteten von Polizei bis Bildungswesen auf, „nicht neutral“ zu sein, „wenn es um den Wertekanon unseres Grundgesetzes geht. Sie müssen sich zu unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen und für sie eintreten.“ Ich habe gesehen, wie Polizisten Menschen verprügelten und verhafteten, die sich mit dem Grundgesetz in der Hand für ihre Rechte einsetzten. Gerade die Corona-Zeit hat gezeigt, was es mit der in Sonntagsreden wie der des Bundespräsidenten beschworenen „wehrhaften Demokratie“ auf sich hat. Das setzt sich gegenwärtig fort, indem der Kurs, die Gesellschaft erneut „kriegstüchtig“ zu machen, wie es einst die Faschisten taten, mit allen Mitteln durchgesetzt wird – wieder gegen all jene, die ganz demokratisch Zweifel artikulieren, Kritik üben und sich gar für Frieden einsetzen, wie es das Grundgesetz fordert.Steinmeier droht all jenen, die das mit dem Grundgesetz und der Demokratie anders als er und seine Kumpane an der Regierung sehen, auch mit Berufsverboten. Auch das hatte die Bundesrepublik schon einmal: Der „Radikalenerlass“ wurde 1972 unter dem SPD-Bundeskanzler Willy Brandt eingeführt. Wer andere politische Lösungen der von den derzeit Regierenden verursachten Problemen vorschlägt, dem droht er nicht nur mit Parteiverbot, sondern den will er gar vom passiven Wahlrecht ausschließen.Der heutige Bundespräsident mit SPD-Parteibuch stellte mit Blick auf die nicht genannte AfD die rhetorische Frage: „Greifen sie unsere Verfassung an, stellen sie sich gegen sie, wollen sie ein anderes, nicht-freiheitliches System?“ Die muss er seiner eigenen Partei und jenen, mit denen sie gemeinsam regierte und regiert, stellen.Die wahren ExtremistenSteinmeier erklärte „Extremisten tragen Feindschaft in das soziale Leben und zerstören das Vertrauen in der Gesellschaft“ und ließ aus, dass genau das seit Jahren die regierenden Parteien tun.Er stellte fest „Extremisten setzen auf Spaltung“ und verschwieg, dass es die Regierenden sind, die dieses Mittel einsetzen.„Extremisten weichen aus, wenn es um machbare Lösungen geht“, sagte er und sprach nicht davon, dass so die Regierenden vorgehen.Ebenso behauptete er, „Extremisten hetzen gegen Europa“, und verschwieg dabei, dass die Bundesregierung mit ihrer Ukraine-Politik derzeit zu den größten Gefährdern Europas gehört.„Rechtsextremisten hängen einer völkisch-autoritären, im Kern menschenfeindlichen Ideologie an“, steigerte er seine Vorwürfe an die Nichtgenannten. Dagegen achte bürgerliche Politik „das Individuum, seine Würde und Freiheit“. Ich habe nicht gehört, dass ihm jemand an diesem Punkt seiner Rede am Sonntag im Schloss Bellevue deutlich widersprach. Auch nicht, als er behauptete: „Extremistisch und bürgerlich: Das geht nicht zusammen, das sind elementare Gegensätze.“ Dabei hätte Widerspruch erfolgen müssen angesichts der oben genannten Beispiele „bürgerlicher Politik“. Diese ist autoritär, menschenfeindlich und antidemokratisch, wenn die Herrschenden es für ihre Interessen als notwendig und nützlich erachten.Wie gut das zusammen geht, hat der historische Faschismus in Deutschland gezeigt, vor dessen Wiederholung Steinmeier mit Blick auf den 9. November 1938 glaubte, warnen zu müssen. Da empfehle ich dem Bundespräsidenten die Lektüre des Brecht-Stückes „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“. Aus dessen Epilog stammt der berühmte Satz:„Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“Die Rede von Steinmeier am vergangenen Sonntag ist voller Demagogie und Hetze, die er anderen vorwirft. Sie ist voller falscher Behauptungen und Auslassungen, derer er andere beschuldigt. Vor allem lässt er das eigene Tun aus. Nur einen Satz daraus kann ich mit voller Zustimmung zitieren und unterstützen, aber anders als Steinmeier es meint und gegen die selbsternannten demagogischen „Demokratie-Verteidiger“ wie ihn gerichtet:„Stehen wir zusammen – für die Selbstbehauptung von Demokratie und Menschlichkeit!“+++Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.