Ein 16-Jähriger stirbt nach der Gentherapie Elevidys. Ein 8-Jähriger erliegt in Brasilien den Komplikationen einer ähnlichen Behandlung. Die FDA reagiert mit einer angeblichen Notbremse – und gibt wenige Wochen später grünes Licht zur Wiederaufnahme der Auslieferung. Das Ergebnis: Die Aktie des US-Biotechkonzerns Sarepta Therapeutics schnellt nach Monaten an Kursverlusten wieder nach oben.Man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen: Vier Todesfälle im Zusammenhang mit verschiedenen Gentherapie-Projekten von Sarepta allein in diesem Jahr. Zwei davon betreffen direkt Elevidys, das erste von der FDA zugelassene Genmedikament zur Behandlung der Duchenne-Muskeldystrophie (DMD). Unter anderem traf es einen 16-jährigen Jungen, der an akutem Leberversagen starb – eine Nebenwirkung, die zwar theoretisch bekannt, aber bisher nicht in dieser tödlichen Ausprägung dokumentiert war.Der andere Fall ereignete sich im Juni in Brasilien: Ein 8-jähriger Junge, ebenfalls Teilnehmer einer Elevidys-Studie, verlor sein Leben. Die Folge war ein “freiwilliger” Auslieferungsstopp, verordnet in Abstimmung mit der US-Gesundheitsbehörde FDA. Doch das Innehalten dauerte nicht lange: Bereits Ende Juli gab die Behörde wieder grünes Licht – zumindest für ambulante Patienten, also jene Kinder, die noch gehen können. Die Toten? Bedauerlich. Die Therapie? “Unwahrscheinlich” ursächlich. Und das Vertrauen? Wiederhergestellt – zumindest an den Finanzmärkten.Gentechnik als GlücksspielDie offiziellen Aussagen von Sarepta lesen sich wie aus dem Lehrbuch für Krisenkommunikation. “Kein neues Sicherheitssignal”, “weiterhin positives Nutzen-Risiko-Verhältnis”, „mögliche CMV-Infektion als beitragender Faktor“. Mit anderen Worten: Man kann es nicht genau sagen, aber Elevidys war’s wahrscheinlich nicht allein. Dass akute Leberschäden in der Packungsbeilage stehen, hilft als Absicherung – vor allem juristisch.Dabei ist das Geschäftsmodell klar: Elevidys generierte allein im letzten Jahr über 820 Millionen Dollar Umsatz – davon knapp die Hälfte im letzten Quartal. Und Sarepta braucht jeden Cent: Das Unternehmen sitzt auf über 1,5 Milliarden Dollar Wandelanleihen, die bis 2027 fällig werden. Analysten wissen das – und deshalb reagierte der Markt euphorisch, als die Wiederaufnahme der Auslieferung verkündet wurde. Die Toten waren noch nicht beerdigt, da stufte Oppenheimer die Aktie von “Neutral” auf “Outperform” hoch. Auch Barclays, BMO Capital und Piper Sandler zogen nach – weil Hoffnung sich nun einmal besser verkaufen lässt als Zweifel.Wenn Risiko zum Geschäft wirdWie gefährlich ist Elevidys wirklich? Laut FDA-Dokumenten und Sarepta-internen Analysen treten Leberschäden regelmäßig innerhalb der ersten 90 Tage nach Verabreichung auf. Auf der MDA-Konferenz 2025 wurde berichtet, dass genau diese Komplikationen die häufigsten schwerwiegenden Nebenwirkungen darstellen. Und dennoch: In klinischen Studien wurden Patienten mit bereits bestehenden Lebererkrankungen, chronischer Hepatitis oder erhöhter GGT nicht einmal untersucht. Man behandelt also mit Hochrisiko-Medikamenten Kinder, ohne zu wissen, wie vorbelastete Lebern reagieren. Aber wer fragt schon nach Details, wenn die Therapie als “einziger Hoffnungsschimmer” verkauft wird?Die FDA selbst steht derweil unter Druck. Einerseits will man Patienten mit tödlichen Krankheiten nicht im Stich lassen. Andererseits muss man die Sicherheit gewährleisten – insbesondere bei Therapien, die auf viralen Vektoren basieren und in kindliche Zellen eingreifen. Die derzeitige Lösung: Spaltung der Patientengruppen. Elevidys darf vorerst nur an gehfähige Kinder verabreicht werden. Für nicht-ambulante Patienten läuft ein Prüfverfahren, bei dem die Kombination mit dem Immunsuppressivum Sirolimus diskutiert wird.Der Preis des FortschrittsIn der öffentlichen Kommunikation dominiert die Erzählung von der “revolutionären Therapie”. Von “Pionierarbeit” und “neuer Hoffnung”. Und es stimmt: Duchenne-Muskeldystrophie ist eine grausame Krankheit, die Buben zu früh in Rollstühle zwingt und vielen kaum eine Chance auf das Erwachsenenalter lässt. Aber gerade deshalb ist die Verantwortung besonders groß – gegenüber den Patienten, den Eltern und den behandelnden Ärzten.Was derzeit geschieht, ist das Gegenteil: Der Tod eines Kindes wird zur Börsennotiz, regulatorische Zurückhaltung als “Hindernis für Innovation” dargestellt, und die Stimme der Betroffenen verkommt zum Marketingvehikel. Ein Therapiesystem, das auf Schuldenfinanzierung basiert und nur überleben kann, wenn Medikamente um jeden Preis verkauft werden, ist per Definition instabil – ethisch, medizinisch und ökonomisch. Ob Elevidys langfristig tatsächlich Leben rettet oder weitere tödliche Skandale auslöst, wird sich zeigen. Was aber schon jetzt feststeht: Die Biotech-Welt hat ein neues Level erreicht – eines, in dem ethische Debatten durch Quartalszahlen ersetzt werden und tote Kinder zum Katalysator für Kursgewinne werden.