Gazastreifen: «Es gibt keinen Platz mehr für irgendjemanden»

Wait 5 sec.

Am Dienstag startete die israelische Armee (IDF) ihre angekündigte Bodenoffensive in Gaza-Stadt. Zuvor fanden massive Luftangriffe statt, bei denen unter anderem mehrere Hochhäuser zum Einsturz gebracht wurden.Ende August hatte die IDF alle 1,2 Millionen Einwohner von Gaza-Stadt aufgefordert, sich in sogenannte «Sicherheitszonen» weiter südlich zu begeben – Zonen, die ihrerseits regelmäßig unter Beschuss genommen werden. Dennoch haben seitdem Hunderttausende die Stadt verlassen. Laut einem UN-Bericht sind mittlerweile insgesamt bis zu 1,9 Millionen Menschen, mehr als 90 Prozent der Bevölkerung Gazas, mindestens einmal vertrieben worden. Es stellt sich somit die Frage, wohin in der zerstörten, belagerten und gefährlichen Enklave die Bewohner von Gaza-Stadt noch fliehen sollen.Mit dieser Frage befasste sich Haaretz Anfang September und ließ einige Bewohner der Stadt zu Wort kommen. Die israelische Zeitung schrieb, dass Familien in Gaza-Stadt vor einer Bombardierung beispielsweise 15 Minuten Zeit gehabt hätten, um das Wichtigste zu packen und ihre Häuser zu verlassen.«Wir wissen nicht einmal, was wir in 15 Minuten einpacken sollen», sagte ein Bewohner gegenüber Haaretz.Osama Abdul Hadi, 27, hat laut Haaretz seit Beginn des neuesten Angriffs auf Gaza-Stadt noch keine offizielle Evakuierungsanordnung erhalten, obwohl er bereits mehrfach aus seinem Haus im Stadtteil Sheikh Radwan geflohen sei. Zuvor hätte er noch zurückkehren können, doch nun lebe er im Flüchtlingslager al-Shati am westlichen Rand der Stadt, im Haus seiner Großmutter. Es sei ein Ort, den sie selbst vor Monaten verlassen habe, als sie nach Muwasi zog, wo Teile der Stadt von der IDF zur «humanitären Zone» erklärt worden seien. Hadi erklärte, wie anders sich die Vertreibung zu Beginn des Krieges im Vergleich zu heute angefühlt hat:«In den ersten Tagen, als man weggehen wollte, konnte man Leute im Süden anrufen – tausend Leute. Man fragte nach einer Unterkunft, einem Zimmer, sogar einem Stück Land, und man fand 2000 Menschen, die bereit waren, einem zu helfen, einen aufzunehmen und einem zu geben, was sie konnten. Damals hatten die Menschen noch etwas, und sie haben einen nicht abgewiesen. Aber wenn man jetzt anruft, antwortet niemand. Nicht, weil sie nicht helfen wollen – nein, weil dieser Krieg die Menschen zermürbt hat.»Hadi zufolge hat der Krieg alles verändert und ihr Leben «auf den Kopf gestellt». Derjenige, der einst «zu Hilfe eilte, hat jetzt kein Zuhause mehr und nicht einmal mehr ein Zelt für sich selbst».«Dieser Krieg ist wie der Tag des Jüngsten Gerichts – die Menschen sind müde und schämen sich, dass sie dir nicht helfen können, weil sie nichts mehr haben», so Hadi.Wie viele andere träume Abdul Hadi davon, Gaza-Stadt ganz zu verlassen, aber er sehe keinen Ausweg, erläutert die israelische Zeitung. Gemäß Hadi sind «einige Leute, die in den Süden gegangen sind, bereits zurückgekommen.» Es gebe «keinen Platz mehr für irgendjemanden». Die billigste Wohnung koste 1000 Dollar, ohne Nebenkosten. Das sei mehr als doppelt so viel wie vor dem Krieg, ergänzt Haaretz. «Wo sollen wir so viel Geld hernehmen?», fragt der Palästinenser. Er stellt zudem fest:«Krankenwagen werden angegriffen, wenn sie zu Einsätzen ausrücken. Mitglieder des Zivilschutzes werden terrorisiert, wenn sie versuchen, einen Brand zu löschen – wie der Krankenwagen, der letzte Woche nach einem Luftangriff in Flammen aufgegangen ist. Während sie arbeiteten, schwebten Drohnen über ihren Köpfen, um sie zu erschrecken. Sie rannten weg, und als die Drohnen weg waren, riefen wir sie aus den Fenstern unserer Häuser zurück. Aber sobald sie zurückkamen, kamen die Drohnen wieder. Sie [die israelische Soldaten] spielten mit ihnen und benutzten sie, um sich zu unterhalten.»Für Enas, eine 32-jährige Mutter von drei Kindern, begann die Herausforderung Haaretz zufolge schon vor der Abreise. Als der Evakuierungsbefehl gekommen sei, hätten sie nicht gewusst, wo sie anfangen sollten. «Wie soll ich ein ganzes Leben einpacken? Jahrelange Arbeit, Kindererziehung, Erinnerungen», sagte sie. Zusammen mit ihrem Mann und ihren Töchtern habe sie sich auf den Weg nach Süden gemacht. Sie berichtete:«Wir dachten, vielleicht würden wir einen Ort finden, an dem wir willkommen sind. Aber wir wurden enttäuscht. Diejenigen, die einen Platz im Süden gefunden haben, können sich glücklich schätzen. Aber was ist mit dem Rest von uns? Selbst die Straßen nehmen uns derzeit nicht auf. Die meisten Menschen haben keine Unterkunft, kein Zelt und keinen Ort, an den sie gehen können. Viele von uns würden lieber sterben, als noch mehr Vertreibungen zu erleben. Wir haben kein Geld, wir haben keine Kraft und keine Energie, um zu evakuieren.»Sie erklärt, dass selbst Geld keine Sicherheit garantieren könne. Jede Vertreibung koste etwa 2000 Dollar:«400 [Dollar] für den Transport, 400, um ein Stück Land zu behalten, auf dem man sein Zelt aufstellen kann, weitere 300 für das Material, um es zu bauen. Dann kommen noch weitere Ausgaben für Wasser, Lebensmittel und sogar den Zugang zu einer Toilette hinzu. Selbst Menschen mit Geld schaffen das nicht immer.»Und selbst wenn Familien sich endlich niederlassen könnten, würde das nicht lange halten:«Sobald man sich niedergelassen hat und sich an das Leben gewöhnt, das man sich aufgebaut hat, wirft einen eine weitere Vertreibung aus der Bahn. Luftangriffe und Tod sind allgegenwärtig.»Ihre Familie befinde sich derzeit in der Stadt Zawayda im Norden Gazas. Aber die Unsicherheit habe sich nicht verringert:«Wir wissen nicht, ob wir weiter nach Süden ziehen oder in den Norden zurückkehren sollen. Meine Familie, die bereits in den Süden geflohen ist, schwört, dass sie wegen der Luftangriffe und Bombardierungen seit einer Woche nicht mehr geschlafen hat. Wir wissen nicht, was wir tun sollen.»Die 24-jährige Sabreen habe sich daran gewöhnt, schnell zu packen, teilt Haaretz mit. Als ihre Familie in das Flüchtlingslager Nuseirat geflohen sei, habe sie nur ein paar Kopftücher mitgenommen. Seitdem habe sie stundenlang im Internet nach einer Unterkunft gesucht. Sabreen erklärte:«Ich habe viele Beiträge in Facebook-Gruppen gepostet, um eine Unterkunft für uns fünf in Khan Yunis oder Rafah [im Süden] zu finden, aber man findet kaum etwas. Und wenn doch, dann ist es sehr teuer. Manche verlangen sogar in roten Zonen Tausende für Häuser», sagt sie und bezieht sich dabei auf die von der IDF ausgewiesenen Kampfzonen. «Wer würde dorthin gehen? Dem Tod entkommen, um in den Tod zu laufen?»Sabreen und ihre Familie seien bereits vier Mal vertrieben worden, seit Israel im März den Waffenstillstand gebrochen hat:«Ich war mir sicher, dass der Krieg wieder ausbrechen würde, aber ich hätte nicht erwartet, dass wir schon am ersten Tag nach dem Ausbruch erneut fliehen müssten. Und genau das ist passiert. Wir flohen aus unserem Haus ohne Habseligkeiten. Zu dieser Zeit mieteten wir für zwei Monate eine Wohnung in Khan Yunis. Dann kam die Evakuierung von Khan Yunis.Wir zogen zurück nach Deir al-Balah und blieben dort weniger als zwei Monate, bis auch dort die Evakuierungsanordnung kam. Wir konnten nirgendwo anders hingehen, also blieben wir eine Woche lang bei entfernten Verwandten in Nuseirat. Danach kehrten wir nach Gaza zurück und wohnten in den Überresten der Wohnung meines Onkels.»Jetzt werde ihrer Familie erneut gesagt, sie solle gehen: «Wir sollen wieder von vorne anfangen, eine Unterkunft suchen, für den Transport bezahlen und die Last tragen. Aber in Wirklichkeit haben wir kein Geld mehr, keinen Ort, an den wir gehen können, nichts. Warum das alles? Und für wen? Was hier geschieht, ist in jeder Hinsicht Blasphemie.»