Theologin Sabine Bieberstein: „Die Bibel ist Katastrophenliteratur – und ein Hoffnungsschatz“

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Eichstätt – Biblische Texte sind in hohem Maße „Katastrophenliteratur“: Sie entstanden meist nicht in Zeiten von Stabilität und Blüte, sondern im Angesicht von Bedrohung, Niederlage und Fremdherrschaft. In Krisenzeiten erzählten die Verfasser alte Geschichten neu, entwarfen Gegenerzählungen zu imperialer Propaganda oder stellten alternative Gesellschaftsentwürfe auf. Diese Auffassung vertritt die Theologin Sabine Bieberstein, die bis zum vergangenen Sommersemester Exegese des Alten und Neuen Testaments sowie Biblische Didaktik an der Katholischen Universität (KU) Eichstätt-Ingolstadt lehrte. Diese Texte – sagt sie – entwickelten Deutungsmuster, die halfen, Unheil zu bewältigen und Identität sowie Hoffnung zu bewahren.Das Transformationspotential biblischer Texte liegt laut Bieberstein darin, dass sie nicht beim Bestehenden verharren: Sie wagen, das eigene Selbstverständnis infrage zu stellen, Zukunftsbilder voller Hoffnungskraft zu entwerfen und sogar Gottesbilder neu zu denken, um an Gott in den Herausforderungen der jeweiligen Zeit festhalten zu können. Biblische Literatur zeige damit Wege auf, wie inmitten von Krisen Perspektiven des Lebens freigesetzt und neue Formen des Miteinanders erprobt werden können. Ein Gespräch über Krisen, Chaosmächte und die Frage, wie heute noch Hoffnungsgeschichten erzählt werden können.Frau Professorin Bieberstein, die katholische Kirche begeht ein Heiliges Jahr unter dem Motto „Pilger der Hoffnung“. Ihre Geschichte beruht auf der hoffnungsvollen Auferstehungserzählung, zugleich befindet sie sich seit Jahren in einer Dauerkrise. Wie kann sie in dieser Situation Hoffnungsträgerin in einer Welt gleichzeitiger multipler Krisen sein?Prof. Sabine Bieberstein: In der Tat befindet sich die katholische Kirche seit geraumer Zeit in einer Krise – auch in einer Glaubwürdigkeitskrise – und steht vor enormen Herausforderungen. Das ändert aber nichts an der Kraft ihrer Botschaft, die ein enormes Hoffnungspotential birgt. Sie haben zu Recht auf die Auferstehungshoffnung hingewiesen. Diese ist eingebettet in eine Vielfalt biblischer Texte, die von der Leben schaffenden Kraft Gottes, von seiner Zuwendung zu den Benachteiligten und Schwachen, den Armen und Hoffnungslosen, den Unterdrückten und von Gewalt Bedrohten sprechen. Ich denke auch an viele positive Zukunftsbilder, die uns vor Augen halten und daran erinnern, was gutes Leben für alle sein könnte. Es gilt, die Kraft dieser Geschichten und Bilder wieder zu erschließen und für das Leben fruchtbar zu machen. Daneben muss sich die Kirche den drängenden Herausforderungen stellen und die notwendigen Reformen angehen, um Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen und zu zeigen, wie sie selbst aus der Kraft ihrer Botschaft lebt.Bei Ihrem Abschiedsvortrag an der KU-Eichstätt-Ingolstadt sprachen Sie über Hoffnungsgeschichten, die nach biblischer Überlieferung angesichts von Katastrophen entstanden sind und den Kreisen, in denen diese Literatur entstanden ist, geholfen haben, Krisen zu bewältigen. Was kann den Menschen heute – zum Beispiel im Heiligen Land, insbesondere im Gazastreifen, aber auch in anderen Kriegsgebieten – angesichts der humanitären Katastrophe, unter der sie leiden, Hoffnung geben?Viele biblische Texte sind angesichts von Katastrophen entstanden. Es zeigt sich, wie im Blick auf diese Krisen Glaubensinhalte weitergedacht oder neu gedacht wurden, und wie es auf diese Weise gelungen ist, an diesen Krisen nicht zu zerbrechen, sondern Zukunftsperspektiven zu entwickeln. Das sind allerdings Bewältigungsstrategien, die sich – beim Blick zurück – im Nachhinein als hilfreich erwiesen haben. In der Krise ist es ja meist noch lange nicht sichtbar, was wirklich tragfähig ist. Die Menschen in den von Ihnen genannten heutigen Krisengebieten gehören unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften an. Es steht mir nicht zu, ihnen aus meiner privilegierten Position heraus zu sagen, was ihnen Hoffnung geben soll. Ich kann mich mit ihnen solidarisieren und auf eine kritische und solidarische Öffentlichkeit hinwirken. Was es braucht, sind politisch gerechte Lösungen, die den Menschen ein Leben in Frieden und Sicherheit ermöglichen. Hoffnung gibt es, wenn Menschen erleben, dass sie gehört und gesehen werden, dass ihre Not ernst genommen wird und dass es glaubwürdige internationale Anstrengungen gibt, auf das Ende von Krieg und Zerstörung, aber auch auf das Ende der Blockade humanitärer Hilfe hinzuarbeiten.Glauben Sie, dass die Bibel heute – ähnlich wie damals – mitten in solchen Krisen neu geschrieben würde, wenn wir sie nicht schon hätten?Die biblischen Bücher, die heute zum anerkannten Kanon der Heiligen Schriften gehören, sind über einen langen Zeitraum entstanden und wurden zum Teil immer wieder weitergeschrieben und überarbeitet, um sie neuen Fragen und Herausforderungen anzupassen. Man kann also sehen, wie sich die Schriften angesichts neuer Herausforderungen immer wieder verändert haben. Allerdings sind bestimmte Schriften – wiederum in einem langen Prozess – als verbindlich erklärt worden, und in der römisch-katholischen Kirche wurde beim Konzil von Trient (1545–1563) der heute gültige Kanon nochmals bestätigt. Von daher stellt sich die Frage, ob heute biblische Bücher neu geschrieben würden, zunächst einmal grundsätzlich nicht. Wenn der Prozess der Produktion oder Redaktion von Schriften auch danach noch weitergegangen wäre, wären vermutlich noch neue Aspekte hinzugekommen.Was sich angesichts neuer Krisen und Herausforderungen allerdings immer ändert, ist die Frage, welche Schriften in welcher Zeit stärker gelesen werden und welche eher in den Hintergrund rücken, und natürlich auch, wie die Schriften interpretiert werden. Wie die Schriften gelesen und interpretiert werden, ist zwar keinesfalls beliebig; doch ist keine Interpretation unabhängig von den Fragen der eigenen Zeit und des eigenen Kontextes, in denen sie steht.Was sagt uns die Bibel über den Klimawandel? Gibt es in diesem Zusammenhang auch eine Hoffnungsgeschichte?Die Bibel sagt nichts über den Klimawandel. Aber die jüngere der beiden biblischen Schöpfungsgeschichten, gleich zu Beginn des Buches Genesis (Gen 1,1–2,4a), bezeichnet den Menschen als „Abbild“ oder „Ebenbild“ Gottes, und das meint nichts anderes als einen Repräsentanten Gottes. Das ist eine atemberaubende Qualifizierung des Menschen; denn sie meint nichts anderes, als dass der Mensch als Repräsentant Gottes handeln soll. Dies gilt im biblischen Text nicht nur für den König, wie dies in anderen altorientalischen Texten der Fall ist – da ist der König der Repräsentant Gottes –, sondern für alle Menschen. Der biblische Text demokratisiert sozusagen diese Vorstellung, indem er alle Menschen als Abbilder Gottes bezeichnet. Das ist ein enormer Zuspruch von Würde – aber auch eine große Verpflichtung, wenn Menschen im Sinne Gottes handeln sollen.