Die freiheitlich-soziale Gesellschaft

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Transition News: Wie könnte unsere Gesellschaft aussehen, wenn wir Wilhelm von Humboldts Ideen aufgreifen? Thomas Brunner: Das Gemeinschaftliche ist das Entscheidende. Erst dann handelt es sich um keine geplante, sondern um eine von Menschen gestaltete Welt. Eine Gemeinschaft von Menschen, die nicht mehr versucht, sich etwas auszudenken und durchzudrücken, oder durch Macht ihre eigenen Vorteile organisiert, sondern sich darum bemüht, in der jeweiligen Situation das Angemessene auf den Weg zu bringen.Und Wilhelm von Humboldt war – so sehr er Geisteswissenschaftler war – ein sehr dialogischer Mensch. Er wurde im Jahr 1767 geboren und starb 1835. Und sein ganzes Leben ist durch hunderte von Begegnungen geprägt und eben nicht durch abstrakte Verwaltungsakte. Er war zwar kurze Zeit auf dem Weg, ein höherer Beamter zu werden – er war sogar Richter. Hat dann aber bald seiner Verlobten geschrieben: Da muss ich raus, das halte ich nicht aus.Humboldt hätte in die höchsten Kreise einziehen können, ist dann aber komplett ausgestiegen, weil er realisiert hat, dass er sonst ein Rad im Getriebe wird. Erst später, als er sich bereits einen Namen gemacht hat, übernimmt er staatliche Ämter.Was war denn für diesen deutschen Vordenker und Philosophen das Neue?Humboldt ist über den Materialismus seiner eigenen Zeit hinausgegangen und hat sich wieder in ganz neuer Art für den Menschen interessiert. Die moderne Naturwissenschaft entsteht, indem Francis Bacon sagt, dass der Mensch als subjektiver Faktor aus dem Erkenntnisprozess ausgeschieden werden müsse, weil wir sonst keine objektiven Daten erhielten. Das ist das ganze Wesen der experimentellen Naturwissenschaft, wie sie bei Bacon angelegt wurde.Der Mensch wird also als Subjekt ausgeschlossen, und es werden eigentlich nur abstrakte Daten generiert. Diese abstrakten Daten sind faktische Daten, aber sie beziehen sich im Grunde nur auf jene Ebene, die das Experiment erfasst. Und wenn wir meinen, das sei die ganze Wirklichkeit, dann werden wir irgendwann versuchen, den Menschen auch in diese Daten einzubauen. Und dann wird das Seelische, das Leben und das Geistige – einfach alles – irgendwann von diesen Daten abgeleitet.In Ihrem Buch «Wilhelm von Humboldt als Wegbereiter einer menschenwürdigen Sozialgestaltung» heißt es, die Menschen hätten «sich selbst durch Abstraktion und Egoismus der (sozialen) Wirklichkeit entfremdet». Was wollte Humboldt denn anders machen?Humboldt hat den Rationalismus eines Christian Wolff vorgefunden. Dieser war ein Schüler von Leibniz. Wolff hat versucht, ein Gesamtbild der Weltwirklichkeit zu schaffen. Das war also Rationalismus par excellence. Damit ist Humboldt aufgewachsen. Dann kommt er zu Immanuel Kant. Kant war selbst Wolffianer, bis er gemerkt hat, dass der Rationalismus in eine totalitäre Weltauffassung führen kann. Somit hat er diesen Anspruch des Rationalismus irgendwann zurückgewiesen. Und das berühmteste Buch von Kant ist ja die «Kritik der reinen Vernunft» – also die reine, durch den Rationalismus erfassbare ideelle Wirklichkeit. Kant kommt zu dem Schluss, dass wir eine Einwirkung einer göttlichen Welt vorfinden, in die wir nie hineinschauen, sondern die wir nur glauben können. Die eigentliche geistige Welt bleibt also transzendent bei ihm.Aber die Wirklichkeit, so wie wir sie heute erfassen, ist im Grunde tatsächlich erst einmal eine Vorstellung im Subjekt des Menschen. Dann wird Kant begeisterter Leser von David Hume. Hume ist sozusagen der Erkenntnistheoretiker des Empirismus. Für ihn gibt es überhaupt keine Erkenntnis, jedes sogenannte «Naturgesetz» stellt für Hume nichts anderes als eine Denkgewohnheit dar. Und damit kommen wir zum modernen Relativismus: Wir haben eigentlich ein Modell von Wirklichkeit. Und diese Modellwirklichkeit dient so lange, bis sie widerlegt ist.Welche Einflüsse wirkten auf ihn?Humboldt wurde durch Friedrich Schiller darauf gebracht, dass Kant zu früh abgebogen ist. Die Fragen sind: Woher kommt denn das Denkvermögen im Menschen? Was ordnet die Logik? Was ist da eigentlich wirksam?Dieser Geist, der im Subjekt wirkt, kommt nicht einfach irgendwie vom lieben Gott, sondern das ist der denkende Mensch letztendlich selbst. Und Schiller erkannte – natürlich auch immer im Dialog mit Goethe, der eben die Natur ganz anders anschaute als die Empiristen –, dass wir im Bewusstsein erst einmal nur Abstraktionen haben – das Modellartige. Und dem gegenüber steht eine Wirklichkeit, die wir in ihrer Besonderheit nicht erfassen.Diese Generalisierung der gesamten Wirklichkeit nenne ich Materialismus. Das heißt, wir haben Daten aus rein materiellen, kausalen Zusammenhängen gewonnen. Experimentell – ohne Seele, Leben oder Geist. Das sind reine kausale Verhältnisse in Raum und Zeit. Und wenn ich die wieder zurück auf die Welt anwende, ist die Welt nur noch eine materialistische Maschine.Humboldt ging mit Schiller der Frage nach, was hinter der Vernunft steht und wer eigentlich die Vernunft produziert. Für Schiller war die Vernunft nur die Schwelle zum eigentlich Seelischen. Der tiefere seelische Mensch kristallisiert sich in der Vernunft. Aber wir können durch diese durchgehen und auf einmal das höhere geistige Leben gewinnen. Und dieses geistige Leben ermöglicht wiederum, das Wesenhafte in der Welt zu sehen.Das ist erkenntnistheoretisch von großer Bedeutung. Und als Schiller starb, hat Humboldt gewusst, dass der größte Erkenntnistheoretiker weg ist. «Jetzt», sagte er, «haben die anderen die Übermacht».Wer sind diese «Anderen»?Das ganze 19. Jahrhundert wurde vom deutschen Positivismus geprägt. Spätestens ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Hermann von Helmholtz und andere, die alle davor noch ein Kulturleben genossen hatten, reine Materialisten. Und das übertrug sich auf das Soziale. Humboldts ganze Vision ist dadurch wie abgeschnitten, spätestens mit Goethes Tod denkt keiner mehr daran.Goethe schrieb kurz vor seinem Tod an Humboldt – es ist Goethes letzter Brief – über den Unterschied zwischen Mensch und Tier. Er sagte sinngemäß, dass die Tiere durch ihre Organe belehrt werden und der Mensch ebenso, aber er hat den Vorzug, seine Organe wiederum belehren zu können. Goethe sprach also dem Menschen zu, dass er sich selbst erziehen, umbilden und an sich arbeiten kann. Im Materialismus gibt es diese Unterscheidung nicht mehr.Dann kündigte Goethe in diesem letzten Brief seinen Faust II an, den Goethe bekanntlich erst posthum veröffentlichen ließ. In der Laborszene in Faust II zeigt Goethe eigentlich das moderne Weltverständnis.Könnten Sie die Laborszene kurz beschreiben?Famulus Wagner, der Schüler von Faust, experimentiert an einem Reagenzglas. Mephisto assistiert ihm. Und Famulus Wagner sagt, er möchte nicht organisieren, das Organische entwickeln, sondern er möchte kristallisieren. Damit wird schon deutlich, er will auf der rein physischen Ebene einen künstlichen Menschen hervorbringen.Und tatsächlich entsteht dieser kleine Homunculus im Reagenzglas und beginnt zu reden. Er redet mit Famulus Wagner über die Welt und fragt sich auch, was ihm selbst eigentlich noch fehlt. Und gibt eine kluge Weisheit von sich: «Das Was bedenke, mehr bedenke Wie?»Philosophisch betrachtet ist das Was der Stoff, das Wie die Struktur – also etwas Allgemeines, aber keine Individualität. Der Homunculus ist unglücklich in seinem Reagenzglas und will immer etwas, er weiß selbst nicht, was – nämlich Mensch werden.Und Goethe hat diese Szene wunderbar erweitert: Im Nebenraum liegt Faust und schläft. Der höhere Mensch, also derjenige, der sich eigentlich entwickeln könnte, ist noch nicht aktiv. Er schläft und träumt von schönen Dingen. Er ist noch nicht wirksam.In der Homunculus Szene – wir könnten auch Christian Drosten an die Stelle von Famulus Wagner setzen – wird moderne Quacksalberei beschrieben: Manche meinen, eine Wirklichkeit schaffen zu können, und richten damit ungeheuren Schaden an, weil sie die eigentlich menschliche Sphäre, nämlich dass der Mensch ein Selbsterziehungswesen ist, komplett außer Acht lassen.Was hat Humboldt konkret zum Thema Selbsterziehung gesagt?Das finden Sie gleich auf dem Bucheinband: «Denn alle Bildung hat ihren Ursprung allein in dem Innern der Seele und kann durch äußere Veranstaltungen nur veranlasst, nie hervorgebracht werden.» Das Menschliche kann also nie von außen kommen. Diese Ur-Intuition von Humboldt wurde durch Friedrich Schiller bestätigt.Humboldts Auffassung war: Im Grunde können wir uns nur um die eigene Entwicklung kümmern. Und wir dienen auch den anderen am meisten, je mehr wir uns in unseren ganzen Unerzogenheiten in den Griff nehmen, uns selbst und an uns weiterbilden.In Ihrem Buch findet sich folgendes Zitat von Humboldt: «Diese Einheit ist die Menschheit, und die Menschheit ist nichts anderes als ich selbst. Es ist nur, als wenn jede Facette eines künstlich geschliffenen Spiegels sich für einen abgesonderten Spiegel hielte. Es wird einmal eine Veränderung kommen, wo dieser Irrtum schwinden und wie Schuppen vom Auge fallen wird.» Hat er auch erwähnt, wie es zu so einer Veränderung kommen kann? Wenn, um das Beispiel von oben zu nehmen, Faust eben nicht schläft?Ich denke, das umfasst unsere ungeheure Krisensituation. Das ist das ganze Thema der menschlichen Freiheit. Wir müssen nämlich nicht aufwachen. Das ist ja die eigentliche Problematik der Gegenwart: Im Materialismus können wir uns einrichten. Und viele Menschen richten sich ein.Nehmen wir zum Beispiel die Kultur. Nüchtern gesagt: Diese Kultur repetiert die Vergangenheit, aber sie ist kulturell nicht sehr produktiv, sondern sie wiederholt. Es wird alles ewig wiederholt.Es ist etwas ins Stocken geraten, weil wir es uns einrichten können. Die Menschen haben zu essen und äußere Bedürfnisse werden scheinbar bedient. Dazu gehört auch die Bildschirmkultur der Gegenwart. Wir haben eine Bilderflut und können trotzdem nicht mehr richtig sehen, weil alles vorinterpretiert ist. Das ist wie ein Gefängnis. Erich Fromm nannte das die «bürgerliche Monade».Sie schreiben, Humboldt sei entschieden für die Grenzen der Wirksamkeit des Staates eingetreten. Auf welche Aufgaben sollte sich laut ihm der Staat beschränken?Der moderne Sozialstaat wäre Humboldt ein Grauen gewesen, weil er eben für uns das Soziale organisiert und uns damit ausschaltet. Er sagt: «Wie jeder sich selbst auf die sorgende Hilfe des Staates verlässt, so und noch weit mehr übergibt er ihr das Schicksal seines Mitbürgers. Dies aber schwächt die Teilnahme und macht zu gegenseitiger Hilfsleistung träge.»Heute stehen wir vor der Entscheidung: Wollen wir eine menschliche Kultur oder wollen wir eine mechanistische Kultur – eine Apparate-Kultur? Einen Apparat können wir irgendwie berechnen, eine menschliche Kultur nicht.Es geht um die Fragen, wie wir Beziehungen schaffen und Probleme lösen – letztendlich bis in wirtschaftliche Themen hinein. Das bedeutet, wir begeben uns in Beziehungen, anstatt uns abzutrennen und uns eine Sonderwelt zu schaffen.War Humboldt tatsächlich ein Libertärer, wie ihm manchmal vorgeworfen wird?Ich würde mal sagen, er war sicher ein enorm Freiheitlicher. Wir haben auf der einen Seite, wie gesagt, diesen Rationalismus – den Fanatismus –, der besagt, die Welt könne aus irgendeiner Zentrale heraus gestaltet werden. Das betrifft den ganzen sozialistischen Utopismus.Beim Libertären haben wir ein anderes Problem, und das liegt wiederum in gewisser Weise an Kant, der nämlich für die Libertären einer der großen Vorboten ist. Und ich hatte ja weiter oben gesagt, er wechselte vom Rationalismus zum Empirismus. Ein enger Freund von David Hume war Adam Smith. Und von ihm stammt die berühmte Aussage, je mehr der Einzelne seinen Interessen folgt, umso mehr ist dem Ganzen gedient. Und die Ur-Libertären, wie Adam Smith, Ludwig von Mises oder Friedrich Hayek, gingen davon aus, dass Wirtschaft so komplex sei, dass sie nicht aus einer Überschau heraus gestaltet werden könne. Der Markt solle entscheiden – Angebot und Nachfrage.Aber Humboldt war mehr als ein einfacher Libertärer. Er ging nicht davon aus, dass der Einzelne nur seinen Vorteil herausholt und sich dann die Gerechtigkeit irgendwie zurechtschaukelt, sondern dass wir zusammentreten und aus den verschiedenen Erfahrungsfeldern die Daten zusammentragen können. Aber nicht im Sinne einer Planwirtschaft, sondern im Sinne einer Erweiterung der Urteilsgrundlage. Indem wir einen Zusammenhang der Wahrnehmungen schaffen, kann der Einzelne besser entscheiden, was er beizutragen hat. Das hat Humboldt in allen Feldern, wo er tätig war, so gepflegt.Haben Sie für diese Erweiterung der Urteilsgrundlage ein Beispiel?Es begann, als er Sektionsleiter für Bildung ist. Die Ministerien wurden so geführt: Oben sitzt einer, hat irgendeine Vorstellung, die seine Untergebenen umsetzen sollen. Und dann wird von oben nach unten – top-down – eine Befehlskette befolgt. Humboldt machte das andersrum: Er holte seine Mitarbeiter an einen Tisch und wollte alle Meinungen, alle verschiedenen Gesichtspunkte einholen. Er schickte sie in die Dörfer, um zu erfahren, was die Menschen konkret erleben und wie sie sich ihr Bildungswesen in der Zukunft vorstellen.Er ging vom Erweitern der Wahrnehmung aus, um dann nicht abstrakt ein Allgemeines reinzusetzen, sondern die Bedingungen so zu organisieren, dass die besonderen einzelnen Dinge besser zur Geltung kommen können.Für ihn galt: Der Staat hört dort mit seinem generellen Prinzip auf, wo das Bildungsleben beginnt. Deswegen hat er ja auch diese Schrift geschrieben, «Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen». Der Staat soll den Rahmen bilden, aber er soll überhaupt nicht in die Inhalte hineinregieren.Aber wie lässt sich freiheitlich und sozial verbinden?Nehmen wir als Beispiel das Konkurrenzprinzip, es ist nicht urmenschlich. Urmenschlich ist vielmehr das Kooperative. Und auch Humboldt geht es um die Verbundenheit der Menschen an sich. Er wollte zum Beispiel regionale Gemeinden in Zusammenhänge bringen, sodass die Menschen sich aussprechen und der reale Bedarf in Erscheinung tritt. Und zwar eben nicht planwirtschaftlich, sondern spontan.So entsteht ein Flechtwerk von gesellschaftlichen Verträgen. Manche Dinge vereinbaren wir als größere Gemeinschaft, einige nur zu zweit. Damit bildet sich ein Geflecht. Wir verstetigen das, je mehr wir Transparenz wirklich kultivieren. Und indem wir permanent auch die Folgen sichtbar machen, entsteht ein sozialer Sinn – ein Gemeinsinn.Das heißt, ich arbeite nicht mehr nur aus meiner Perspektive, sondern ich habe zunehmend Freude daran, dass im Sozialen, also im Gemeinschaftsleben, etwas entsteht. Das hängt alles mit folgender Grundfrage zusammen: Wer verwaltet die Gesellschaft – ursprünglich das Bewusstsein? Denn wenn ich den lieben Gott draußen lasse, dann habe ich immer irgendwo eine Kommission, die für uns Bürger die ethischen Normen entwickelt. Und das hatten wir ja gerade.Seit «Corona» gibt es einen Ethikrat – in welchem Mittelalter befinden wir uns eigentlich? Das ist ja nichts anderes als Ausdruck dafür, dass wir nicht selbst denken sollen.Sie führen auch an, dass Humboldt von vielen falsch eingeschätzt wird. Wie kam es zu diesen Missverständnissen?Zum einen schlicht und einfach deshalb, weil er natürlich etwas entwarf, das den heute vermeintlich als große Errungenschaften geltenden sozialen Normen widerspricht. Ganz konkret: Den staatlichen verbeamteten Universitätsprofessor gibt es bei Humboldt nicht. Er wollte eben keinen Staatsprofessor. Für Humboldt war das Bildungsleben jenseits des Staatlichen anzusiedeln.Die Berliner Universität – die heutige Humboldt-Universität – war als freie Universität gegründet. Sie war eine Bürger-Universität, auch finanziell sollten die Bürger, also die, die so eine Einrichtung als sinnvoll erachten, diese tragen. Zwei Jahre später wurde die Universität verstaatlicht. Und dann schrieb Humboldt an seinen ehemaligen Mitarbeiter Nicolovius: «Die Universität ist mehr als verloren, denn der Geist ist aus allem gewichen.» Denn statt der Gemeinschaft, ist es auf einmal ein Ministerium, das bestimmt, wer unterrichtet und so weiter.Das andere ist ein Vorurteil: Humboldt war an den antiken Sprachen, wie Griechisch oder Latein, interessiert und es hieß, er hätte ein antikes Weltbild. Deshalb wurde ihm unterstellt, er hätte noch keine Ahnung von der modernen Naturwissenschaft und Kinder würden weltfremd erzogen, wenn man seinen Idealen folgt. Dabei ging es Humboldt einfach um die Frage, wie der Mensch letztendlich urteilsfähig wird.Warum halten Sie die sachliche Auseinandersetzung mit diesem Philosophen besonders jetzt für wichtig?Weil wir denkende Wesen sind. Und viele haben ja gerade in der «Corona»-Zeit erlebt, dass da was nicht stimmt und wie sehr wir durch die Art, wie wir denken, noch mit dem System zusammenhängen. Diese Selbstanalyse können wir gerade von Wilhelm von Humboldt lernen.Das heißt, jeder muss irgendwann in die Selbstanalyse kommen und verstehen, dass dieser ganze Irrsinn auch eine Folge davon ist, wie wir uns sozialisiert haben. Das Modell der sozialen Marktwirtschaft haben wir so angenommen, weil es den materialistischen Bedürfnissen erst einmal entspricht. Jeder kann sich da sein Plätzchen suchen.Es sich sozusagen ohne schlechtes Gewissen bequem machen.Aber wohin das führt, haben sich wenige klargemacht. Die Finanzmarktblase ist ein Teil dieser Wirklichkeit. Und die drückt heute so, dass wir es nicht mehr angenehm finden. Der Mensch ist eben nicht nur ein materielles Wesen, deswegen funktioniert das immer weniger. Aber es soll im Grunde etwas gerettet werden, das so nicht mehr tragfähig ist, weil daran ungeheure Machtbefugnisse hängen.Wir kommen nicht drum herum, heute in unmittelbare menschliche Beziehungen zu treten. Und aus diesem statischen Modelldenken in ein wirklichkeitsgemäßeres Denken zu wechseln. Und das heißt: Nichts ist sicher. Das Leben ist Prozess.Wir können die soziale Frage – wie es im 19. Jahrhundert hieß – gar nicht mit einem Schritt lösen. Es gibt nicht das optimale Modell, das einmal eingeführt funktioniert.Die Lösung der sozialen Frage ist, dass wir in aktivere Beziehungen treten. So wird aus der dualistischen Gesellschaft, aus Führung und Untertanen, eine Gesellschaft des Zusammenwirkens. Das ist ein lebendiger Prozess. Ich halte es für entscheidend, dass wir aus diesem dualistischen Ich-tue-was-und-dafür-kriege-ich-was rauskommen.Ist das nicht eigentlich ein anarchischer Gedanke?Das ist anarchisch und zwar in Bezug auf die Kultursphäre, auf die Frage der individuellen Entwicklung und so weiter. Durchaus darf es ein Staatliches geben, aber nur noch als Rahmengesetzgebung.Nochmal zum Thema Libertäre: Natürlich haben viele Libertäre gegenwärtig meine große Sympathie – aber eingedenk dieser Grundproblematik, dass die freie Konkurrenz nicht die Lösung ist. Wir müssen davon weg, nur aus der Sicht des Produzenten zu denken. Der Inhalt des Wirtschaftens ist nicht der Gewinn, sondern primär immer der Bedarf.Wirtschaften heißt, füreinander – für den Bedarf des anderen – tätig zu sein. Und deswegen muss der Bedarf und nicht die Gewinnerwartung am Anfang stehen.Sie schreiben: «Zentrale Lenkungsmechanismen sind ein Angriff auf die Würde des Menschen.» Könnten Sie das noch ein bisschen erläutern?Was ist die Würde des Menschen? Die Würde des Menschen besteht ja darin, dass ich ihm zugestehe, ein mündiges, selbstbestimmtes Leben zu führen. Das heißt, ich gestehe ihm eine Instanz zu, die ihn Schritt für Schritt handlungs- und urteilsfähig werden lässt.Als Beispiel: Ein Kind wächst heran und ich bemühe mich, ihm den Umraum zu gestalten und es mit Inhalten bekanntzumachen, sodass es sich selbst immer besser verstehen, wach werden und durch Lebenserfahrungen Weltvertrauen entwickeln kann. Das heißt, ich achte die Würde.Der ganze Transhumanismus ist ein deutlicher Ausdruck dafür, dass kein Begriff von menschlicher Würde dahintersteckt, sondern die Anschauung, dieses «Mängelwesen Mensch» optimieren zu müssen, damit es besser funktioniert. Aus Sicht des reinen Materialismus ist das sogar folgerichtig.Was dadurch für ein ungeheurer Schaden entsteht, hat mir der Arzt Thomas Hardtmuth verdeutlicht, der lange Jahre Chirurg war und jetzt vor allem am Mikrobiom forscht. Er hat gesagt: «Je mehr ich den Leuten sage, was sie zu tun und wie sie zu leben haben, desto mehr verlieren sie die Fähigkeit zur Selbstführung und die Möglichkeit, überhaupt mit der Welt in Beziehung zu treten, und umso mehr müssen sie geführt werden.»Er meint, dass wir in 20, 30 Jahren Menschen haben werden, die an einer Ampel stehen und nicht mehr entscheiden können, ob sie gehen dürfen. Da sie immer von außen gesagt bekamen, was sie tun sollen und was richtig oder falsch ist, wurde ihre eigene Urteilsfähigkeit nie angefragt und deshalb nicht entwickelt.Es ist natürlich ein ungeheurer Verblödungsvorgang, der hier stattfindet. Und Folgendes habe ich in meinem Buch auch angedeutet: Der Begriff öffentlich-rechtlich ist nach Humboldt eine Vermischung. Denn das Rechtliche – den Rechtsrahmen zu geben – ist eine staatliche Aufgabe. Die Öffentlichkeit ist aber nicht Inhalt des Staates, sondern die Öffentlichkeit ist die Gesellschaft. Humboldt unterscheidet zwischen öffentlich und staatlich und meint mit öffentlich die Gesellschaft. Und der Staat hat die öffentliche Meinungsbildung zu schützen.Und zu respektieren.Der Staat hat überhaupt nicht reinzuwirken. Deswegen sind in Zukunft die öffentlichen Medien nicht mehr staatlich. Die alternativen Medien sind also nicht nur ein Notbehelf, sondern die Keime der Zukunft.Was sind also die Bausteine zur Erneuerung der Gesellschaft?Die Erneuerung beginnt dort, wo wir nicht mehr nur nach dem Was und Wie fragen, sondern immer auch nach dem Wer. Sonst bauen wir materialistische Strukturen – für die braucht es kein Wer, keine Individualität.Aber wenn ich eine menschliche Kultur bauen will, brauche ich immer Individualität. Jedes heranwachsende Kind ist eine Individualität. Individualität heißt immer, Interesse für die Selbstwirksamkeit des anderen zu haben. Darin liegt für mich der Schlüssel. Die kommende Kulturwende besteht also darin, dass wir uns als Subjekte wiederentdecken. Und daraus entstehen neue wirtschaftliche Beziehungen, eine andere Art des Wirtschaftens, was ja auch in der Genossenschaft «Menschlich Wirtschaften» angelegt ist.Und ein weiterer Baustein: Wir müssen an den staatlichen Apparat selbst rangehen. Denn das hier ist keine Demokratie. Demokratie hieße, Machtbefugnisse sowie gesellschaftliche Privilegien zu überwinden und wirklich ein Rechtsleben aufzubauen.Das Interview führte Sophia-Maria Antonulas.